Die Krisis 

Die Grundlinien der diplomatischen Verhandlungen bei Kriegsausbruch 

Von 

B. W. VON BÜLOW 

(1922)

II. Der österreichisch-serbische Konflikt

2. Die Folgen der Ermordung des Erzherzog-Thronfolgers

Jagow hat dem Untersuchungsausschuß erklärt:
Die Bluttat von Sarajevo hatte eine Tragweite, die über die Durchschnittsbedeutung von Fürstenmorden hinausging. Das Band, das die national so verschiedenen Völker Österreich-Ungarns zusammenhielt, war die Dynastie. Schon der Sprachgebrauch der den unter dem habsburgischen Szepter vereinten Länderkomplex als "die Monarchie" bezeichnete, brachte dies zum Ausdruck. Das Attentat gegen den Erzherzog, auf dem die Zukunft ruhte, bedrohte den Fortbestand des Reiches selbst. Dem greisen Kaiser stand nach menschlichem Ermessen nur noch eine kurze Lebensfrist bevor; der nächste Agnat nach dem Thronfolger war ein in den Regierungsgeschäften noch wenig erfahrener, in der Öffentlichkeit noch kaum hervorgetretener Jüngling. Der ermordete Franz Ferdinand war als slawenfreundlich bekannt, von ihm erwartete man eine Lösung der inneren Probleme des habsburgischen Völkerstaates in föderativem Sinne, mit seinem Tode sanken diese Aussichten zunächst dahin. (A. a. O., S. 24, 25.)
Der Mord von Sarajevo war eine unmittelbare Folge der serbischerseits seit Jahren offen betriebenen, von der serbischen Regierung unterstützten großserbischen Propaganda. Er wurde durch aktive serbische Beamte und Offiziere angestiftet, begünstigt und ermöglicht. Ein serbischer Major händigte den Attentätern Waffen (Bomben und Pistolen) aus serbischen Armeebeständen aus, übte sie in deren Gebrauch und versah sie mit Reisemitteln. Ein Beamter im serbischen Eisenbahnministerium bestimmte ihren Reiseweg nach Sarajevo. Serbische Grenzbeamte ermöglichten den heimlichen Übertritt der Attentäter auf österreichisch-ungarisches Gebiet und sorgten für das Herüberschmuggeln der Mordwaffen*). Gegenüber diesen Schuldbeweisen, deren Widerlegung niemals versucht worden ist, fällt die Frage der Mitwisserschaft der Belgrader Regierung kaum ins Gewicht. Dieser konnte damals keine unmittelbare Mitschuld nachgewiesen werden. Sie hat sie jedoch seither selbst auf sich genommen, indem sie 1919 durch eine offizielle kirchliche Feier die Mörder am Orte ihrer Tat zu Nationalhelden stempelte. Noch ein anderer Vorgang läßt weitgehende Schlüsse zu. Als die ersten Ententekommissionen nach dem Waffenstillstand in Wien einzogen, erschien auf den zuständigen Ministerien ein serbischer Offizier, der im Auftrage seiner Regierung die Herausgabe aller Akten forderte, die auf den Prozeß von Sarajevo und auf die großserbische Bewegung Bezug hatten. Willige Hände lieferten ihm das Verlangte aus. Er beschlagnahmte das umfangreiche Material und führte es fort. Der Regierung in Belgrad war es offenbar bekannt, daß noch sehr viel belastendes Material, besonders im ehemaligen k. u. k. Finanzministerium (dem die Verwaltung Bosniens unterstand), vorlag, das 1914 nicht zur Verwendung gelangte, weil die Beamten des Ministeriums des Äußeren, die mit den Nachforschungen betraut waren, sich in den fremden Akten nicht zurechtfanden und seitens des Finanzministeriums, das dem Polen Bilinski unterstand, nicht die zu erwartende Unterstützung fanden**).
Die österreichisch-ungarische Regierung hatte die serbischen Treibereien die längste Zeit gewähren lassen. Als aber die Gefahren und Schäden der großserbischen Propaganda durch den Mord von Sarajevo aller Welt offenbar geworden waren, entschloß sie sich zu einem Vorgehen in Belgrad. Niemand erwartete etwas anderes. Der belgische Gesandte in Berlin, ein gewiß unverdächtiger Zeuge, berichtete am 2. Juli 1914:

*) Pharos, Der Prozeß gegen die Attentäter von Sarajevo (Berlin 1918),
**) Karo (Die Verantwortung der Entente am Weltkriege, S. 57) sagt sehr treffend: Offenbar enthielten diese Akten kein die serbische Regierung entlastendes Material, sonst wäre dieses längst in alle Welt ausposaunt worden. 

Das Kabinett Paschitsch, das die Augen schloß, um den Herd anarchistischer Propaganda in Belgrad nicht zu sehen, darf nicht überrascht sein, daß man von ihm verlangt, energisch gegen die Schuldigen vorzugehen, anstatt sie immer weiter mit blinder Duldung zu behandeln. (Belgische Aktenstücke 1905-1914, Nr. 119.)
Die österreichisch-ungarische Regierung zögerte ganz ungebührlich mit dem erwarteten Schritt und verlor dadurch viel von der moralischen Unterstützung, die ihr unter dem frischen Eindruck der allgemein verabscheuten Mordtat sicher gewesen wäre. Die öffentliche Meinung Europas, die eine aus dem ersten Impuls geborene Sühneaktion geduldet hätte, auch wenn hierbei sehr scharfe Bedingungen gestellt wurden, war weniger geneigt, sich mit einem Vorgehen abzufinden, welches offensichtlich kaltüberlegter politischer Berechnung entsprang. Daß man sich in Wien zu einem Vorgehen gegen Serbien entschlossen hatte, war freilich aller Welt aus den Reden Tiszas im Abgeordnetenhause vom 8. und vom 15. Juli 1914 bekannt. Am 15. Juli antwortete der ungarische Ministerpräsident auf eine Interpellation: Die Beziehungen zu Serbien müßten geklärt werden; er könne sich aber, da die Frage in der Schwebe sei, nicht darüber äußern, in welcher Weise, in welcher Richtung und mit welchem Inhalt Schritte unternommen werden würden*). Der serbischen Regierung war hierdurch bekannt gegeben, daß ihr Forderungen gestellt werden würden**). Deren Formulierung erfolgte aber erst am 19. Juli 1914. (Österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr 26.)
Das Wiener Kabinett hat der serbischen Regierung somit sehr ausreichende Zeit gelassen, ihrerseits etwaigen österreichisch-unga-

*) Der bayerische Legationsrat von Schoen hat am 18. Juli berichtet, man bedaure in Berlin, daß Graf Tisza "durch seine Erklärung im ungarischen Abgeordnetenhaus den Schleier schon etwas gelüftet hat" (Deutsche Dokumente, Anhang IV, Nr. 2). Dies Bedauern bezieht sich vermutlich auf die Äußerung zum Schluß der Erklärung Tiszas: Jede Nation muß imstande sein, Krieg zu führen, und muß den Krieg als ultima ratio wollen, wenn Staat und Nation weiterbestehen soll. Die Warnung an Serbien konnte aber in Berlin nicht gut "bedauert" werden, hat doch Jagow selbst am 14. Juli dem serbischen Geschäftsträger erklärt: Österreich-Ungarn könne sich die aufreizende Haltung und die Angriffe der serbischen Presse als Großmacht nicht gefallen lassen. (Serbisches Blaubuch Nr. 19.) Am 16. Juli riet er der serbischen Regierung, die großserbische Propaganda im Interesse ihrer guten Beziehungen zu Österreich-Ungarn energisch niederzuschlagen (Serbisches Blaubuch Nr. 26). Am 20. Juli erklärte er schließlich dem serbischen Geschäftsträger, daß er es wohl begreifen könne, wenn angesichts der Haltung, die Serbien - trotz fortgesetzter deutscher Ratschläge - gegenüber der benachbarten Monarchie einnehme, "man jetzt dort energischere Seiten aufzöge". (Deutsche Dokumente Nr. 91.)
**) Daß die Rede Tiszas Beachtung fand, beweist Nr. 23 des serbischen Blaubuches. Der serbische Gesandte in Wien schließt einen Bericht vom 15. Juli mit den Worten: "Eines steht heute schon fest: Österreich-Ungarn wird diplomatische Schritte in Belgrad unternehmen, sobald die Untersuchung in Sarajevo abgeschlossen und der Fall dem Gericht vorgelegt sein wird.

rischen Schritten dadurch zuvorzukommen, daß sie aus eigenem Antriebe gegen die an dem Morde des Erzherzog-Thronfolgers Mitschuldigen vorging und Maßnahmen traf, die eine Gewähr für die Zukunft boten. Nichts dergleichen geschah*). Der Anstiftung des Mordes dringend Verdächtige konnten rechtzeitig aus Belgrad verschwinden, ohne daß die serbischen Behörden ihnen nachstellten. Serbischerseits ist der Einwand erhoben worden, die österreichischungarische Regierung habe während dieser Zeit keinerlei Ersuchen an Serbien gerichtet, in Belgrad eine Untersuchung einzuleiten, auch seien ihr nicht die Ergebnisse der Vernehmung der Attentäter in Sarajevo amtlich mitgeteilt worden. Dem ist entgegenzuhalten, daß aus den Mitteilungen der Presse aller Welt bekannt war, daß die Fäden der Verschwörung, der der Erzherzog-Thronfolger zum Opfer fiel, nach Belgrad führten**). Auch hat der österreichisch-ungarische Geschäftsträger in Belgrad bereits am 30. Juni auf dem Ministerium des Äußeren angefragt, welche Schritte seitens der serbischen Polizei ergriffen worden seien (Österreichisch-ungarisches Rotbuch 1914, Nr. 2, Deutsche Dokumente Nr. 12).
Die serbische Regierung unternahm keinerlei derartige Schritte. Serbien bekundete auch nicht den Willen, dem Nachbarstaate so weit entgegenzukommen, wie dies der Anstand im internationalen Verkehr geboten hätte. Während der ersten drei Wochen des Juli 1914 hallten die serbischen Blätter von Schmähungen gegen Österreich-Ungarn wider, während kaum eine Stimme laut wurde, welche mehr als ein formelles Bedauern für die nationale Trauer der Donau-Monarchie aussprach***). Die serbische Regierung ihrerseits hat weder Rechtshilfe angeboten, noch irgend einen Versuch unternommen, den beleidigenden Hetzereien gegen den Nachbarstaat entgegenzutreten. Die Mitglieder der Regierung wetteiferten auf ihren

*) Die von seiten des Feindbundes oft hervorgehobene Erklärung des Gesandten Jovanowitsch an den Unterstaatssekretär Macchio vom 30. Juni (Serbisches Blaubuch Nr. 5) erfolgte nicht im Auftrag der serbischen Regierung und ist nur als Kondolenzbesuch zu bewerten.
**) Der serbische Gesandte in Wien hat am 6. Juli ausführlich hierüber berichtet, und namentlich auf die Anschuldigungen hingewiesen, die gegen Ciganowitsch und Pribitschewitsch erhoben wurden (Serbisches Blaubuch Nr. 16). Ciganowitsch verschwand drei Tage nach dem Attentat aus Belgrad, als sein Name in den Zeitungen genannt wurde (österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 61), ohne daß die serbische Regierung ihm nachstellte (Serbisches Blaubuch Nr. 39). Erst auf die österreichisch-ungarische Note vom 23. Juli hin wurde ein Steckbrief gegen ihn erlassen und nunmehr auch der schwerbelastete Major Tankositsch verhaftet (Serbisches Blaubuch Nr. 39).
***) Dies hatten Serbiens Freunde anscheinend vorausgesehen. Viviani riet am 1. Juli, Sasonow am 4. Juli eindringlich zu Ruhe und Wohlverhalten (Serbisches Blaubuch Nr. 13 und 14). Auch der serbische Gesandte in Wien warnte am 6. Juli vor den Folgen der Haltung der serbischen Presse (Serbisches Blaubuch Nr. 15).

Wahlreisen mit den Abgeordneten aller Parteien in Kundgebungen der Feindschaft und Unnachgiebigkeit gegen Österreich-Ungarn. Es stand somit zu erwarten, daß die serbische Regierung selbst angesichts der verbrecherischen Folgen ihrer Österreich-Ungarn gegenüber geführten Politik nicht bereit und geneigt war, andere Bahnen einzuschlagen und das ihre beizutragen, um ihr Verhältnis zur Nachbarmonarchie in ein friedliches und erträgliches umzugestalten.
Österreich-Ungarn faßte daher von vornherein scharfe Mittel ins Auge. Allem Anschein nach hat die Haltung Serbiens während der ersten Juli-Wochen zu einem besonders energischen Vorgehen der Wiener Regierung beigetragen. Das österreichische Rotbuch von 1919 und die quellenkritische Studie von Gooss*) enthüllen interessante Einzelheiten über die Entstehung der österreichisch-ungarischen Note und die Verhandlungen zwischen Wien und Budapest. Diesen Interna ist nicht allzu große Bedeutung beizumessen. Ein schwankender Charakter mehr oder weniger, eine List oder eine Lüge zu viel haben auf das Vorgehen der Wiener Regierung sicherlich weniger Einfluß gehabt, als die allgemeine Stimmung in den Donauländern. Das Gesamtbild, das sich aus den österreichisch-ungarischen Akten ergibt, ist das folgende: Berchtold strebte eine kriegerische Lösung an. Weshalb er eine andere Lösung von vornherein ablehnte, ist nicht recht erkennbar. Tisza wollte anfangs eine Lösung, wie sie damals wohl jeder vernünftige Politiker - auch in Berlin - erwartet hatte, ein Verfahren, das möglicherweise den beabsichtigten Erfolg erzielt haben würde. Er empfahl "ein ernstes und energisches Vorgehen in Belgrad" in Gestalt einer "in gemessenem, aber nicht drohendem Tone gehaltenen Note", welche "konkrete Beschwerden" und "präzise Petita" enthielt, so daß Serbien die Möglichkeit bliebe, "den Krieg im Wege einer, allerdings schweren, diplomatischen Niederlage zu vermeiden". (Österreichisches Rotbuch 1919,1, Nr. 12.) Weshalb sich der ungarische Ministerpräsident in der Ministerbesprechung vom 14. Juli (Österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 19) umstimmen ließ, ist nicht recht ersichtlich, doch scheint die Haltung der Belgrader Regierung das Wesentlichste hierzu beigetragen zu haben (Deutsche Dokumente Nr. 49). Berchtold hat sowohl Tisza wie den Kaiser Franz Joseph besonders dadurch im Sinne des von ihm angestrebten scharfen Vorgehens zu beeinflussen gesucht, daß er darauf hinwies, die deutsche Regierung erwarte ein energisches Einschreiten gegen Serbien. Es ist zweifellos richtig, daß in Berlin eine radikale Lösung erwartet und gewünscht wurde. Dafür, daß Wien deutscherseits zu einem schärferen Vorgehen gedrängt worden ist, als es selbst beabsichtigte, fehlt jeder

*) Roderich Gooss, Das Wiener Kabinett und die Entstehung des Weltkrieges. (Wien, 1919.)

Anhalt in den Deutschen Dokumenten. Hingegen fällt die Unterlassung jeder Warnung auf, die man auf die zahlreichen Berichte der Wiener Botschaft hin, welche über Berchtolds Absicht einer kriegerischen Lösung des Konflikts Mitteilungen machten (Deutsche Dokumente Nr. 19, 29, 49, 65, 87), erwarten könnte. Berchtold hat aber die deutsche Regierung immer nur zu einem geringen Teil in seine Pläne eingeweiht. Er hat ihr keinen reinen Wein eingeschenkt. Über die im Wiener Ministerrat vom 19. Juli (Österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 26) vorgesehenen Annexionen oder "Grenzberichtigungen" ist offenbar nie ein Wort nach Berlin gelangt. Am 20. Juli versicherte vielmehr Berchtold dem deutschen Botschafter, es sei "beschlossen worden, von jeder dauernden Einverleibung fremden Gebietes abzusehen". (Deutsche Dokumente Nr. 94.) Auch sonst waren die Mitteilungen über das beabsichtigte österreichisch-ungarische Vorgehen im Ausdruck wenig bestimmt gehalten, so daß Jagow wiederholt fragen mußte, wohin eigentlich der Weg führen solle (Deutsche Dokumente Nr. 61, Österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 41).
Im übrigen muß bei der Beurteilung der Haltung der Wiener Regierung berücksichtigt werden, daß nach der damals herrschenden, anscheinend gerechtfertigten Auffassung durch eine Bestrafung der Mitschuldigen an dem Morde in Sarajevo eine dauernde Klärung der austro-serbischen Beziehungen nicht erreicht worden wäre, daß vielmehr die Lage es als unumgänglich erheischte, das Übel der großserbischen Agitation an der Wurzel zu packen, wenn es gelingen sollte, in diesem Wetterwinkel Europas Ruhe zu schaffen. Man darf annehmen, daß Bethmann Hollweg in seinen Ausführungen für den Untersuchungsausschuß die damalige Auffassung richtig wiedergibt. Er sagte:
Die absolute Treulosigkeit der serbischen Politiker war in Wien bekannt. Mit milden Mitteln war nichts mehr zu erreichen. Versprechungen wären mit dem Willen gegeben worden, sie bei der ersten guten Gelegenheit zu brechen. Ließ sich Österreich auf diese oft geübte serbische Taktik ein, so war die moralische Auflösung des österreichisch-ungarischen Staates vollzogen. Der letzte mögliche Augenblick war da, um die österreichische Autorität bei der südslawischen Welt wiederherzustellen. Sollte er nicht unwiederbringlich verloren gehen, so mußte fest und schnell zugegriffen werden. (A. a. O., S. 21.)
Österreich-Ungarn sah sich demgemäß veranlaßt, die Forderungen, die es zur Sühnung des Mordes von Sarajevo und zur Erreichung von Sicherungen für Serbiens künftiges Wohlverhalten stellte, in eine sehr scharfe Form zu kleiden, in Kenntnis der von Serbien beliebten Methoden, für ihre Annahme eine bestimmte Frist zu setzen und ihre in Belgrad überreichte Note zu veröffentlichen.
Die Bekanntgabe der an Serbien gerichteten Forderungen (die vielfach als eine unnötige Verschärfung des österreichisch-ungarischen Schrittes angesehen worden ist) erscheint selbstverständlich, da Serbien durch sein Verhalten nicht nur die Pflichten eines friedlichen Nachbarn verletzt hatte, sondern auch die Zusicherungen, die es auf Drängen der Mächte in der am 31. März 1909 in Wien überreichten Note übernommen hatte. In dieser Note verpflichtete .sich Serbien, "die Richtung seiner gegenwärtigen Politik gegenüber "Österreich-Ungarn zu ändern und künftighin mit diesem letzteren auf dem Fuße freundnachbarlicher Beziehungen zu leben". Die serbische Regierung tat jedoch so gut wie nichts, um ein friedliches Verhältnis zur Nachbarmonarchie herbeizuführen. Sie pflegte vielmehr den Geist des Hasses gegen Österreich-Ungarn und zettelte in den Grenzländern der Monarchie eine wohlorganisierte subversive Bewegung an. Gegen diese großserbische Propaganda richtete sich letzten Endes die österreichisch-ungarische Aktion von 1914. Insoweit die panserbische Agitation nicht als Ursache des Attentates von Sarajevo anzusehen ist, kann man sagen, daß die Ermordung des Erzherzogs zum "Vorwand" genommen wurde. Sofern dieser Zusammenhang aber bestand, und das ist damals in Berlin jedenfalls angenommen worden, war jener Mord ein berechtigter Anlaß zum Einschreiten und zur Behebung der Ursachen des Übels. Fragwürdig erscheint, auch vom damaligen Standpunkt aus, in erster Linie die Wahl der Mittel.
Bei der Bewertung der österreichisch-ungarischen Note wird vielfach vorausgesetzt und zu Unrecht geglaubt, daß sie Forderungen enthalten habe, die bis dahin unerhört waren. Die Annahme, daß sie ohne Gegenstück in der Geschichte sei, beruht jedoch auf Irrtum. Durch die Forderungen der Pariser Friedensverträge von 1919 und die Noten der Alliierten aus der Nachkriegszeit wird sie natürlich in jeder Hinsicht in den Schatten gestellt. Auch die Noten, die der Feindbund während des Krieges an neutrale Staaten, wie Griechenland, gerichtet hat, gehen über die österreichisch-ungarische vom 23. Juli 1914 hinaus. Weniger häufig erinnert man sich aber daran, daß z. B. England und Frankreich in ihrem Ultimatum vom 25. Mai 1882 von Ägypten die Verbannung des Kriegsministers und anderer Führer der nationalen Bewegung sowie den Rücktritt der gesamten Regierung verlangten. Es lag damals keine Provokation vor, wie die serbische gegenüber Österreich-Ungarn, um diese Forderungen zu rechtfertigen, die um ein Wesentliches die der Wiener Regierung übertrafen. Das englische Ultimatum an Portugal vom 5. Januar 1890 stellte eine Frist von weniger als drei Tagen, ebenso das der Vereinigten Staaten an Spanien vom 20. April 1898. Dieses letztere Ultimatum sollte freilich eingestandenermaßen den Krieg herbeiführen, wie auch das italienische Ultimatum an die Türkei vom .28. September 1911, das mit nur 24 Stunden befristet war. Es liegt auf der Hand, daß die österreichisch-ungarische Note an Serbien in Feindbundkreisen deshalb besonders abfällig beurteilt worden ist, weil ihr die weitgehenden Zwecke unterstellt wurden., die man selbst bei ähnlichen Anlässen verfolgt hatte. Jeder gerechten Beurteilung müßte aber eine Würdigung des gegebenen Anlasses und die verfolgten Ziele vorhergehen.
Eine Kritik der Note selbst dürfte sich heute jedoch erübrigen, zumal die deutsche Regierung seinerzeit an der Abfassung selbst nicht beteiligt war. Nur zwei Fragen sind bezüglich des Ultimatums noch von Interesse: ob diese Note eine friedliche Lösung des Konfliktes überhaupt zuließ, und ob sie den damaligen politischen Gebräuchen entsprach. Die dritte Frage, ob Serbien, seinen eigenen Entschließungen folgend, eine andere Stellung zum österreichischungarischen Ultimatum eingenommen hätte, als geschehen ist, kann heute noch nicht beantwortet werden.
Zur Frage, ob die Note eine friedliche Lösung zuließ, gehört die Vorfrage, ob ihre Annahme denkbar gewesen wäre. Es sei deshalb auf den Vorschlag der italienischen Regierung vom 27. Juli hingewiesen, daß die vier Mächte (Deutschland, Italien, England und Frankreich) Serbien den Rat erteilen sollten, die Note uneingeschränkt anzunehmen (Englisches Blaubuch Nr. 57); ferner auf die Mitteilung des serbischen Geschäftsträgers in Rom vom 28. Juli, wonach Serbien die österreichische Note nach Erläuterung der Punkte 5 und 6 nachträglich noch annehmen würde (Englisches Blaubuch Nr. 64; Deutsche Dokumente Nr. 357; vgl. auch Deutsche Dokumente Nr. 249). Anscheinend hat San Giuliano diese Erklärung nur nach London und Grey dieselbe nur nach Berlin weitergegeben. Bethmann Hollweg bezeichnete "ein derartiges Nachgeben Serbiens als geeignete Basis für Verhandlungen". (Deutsche Dokumente Nr. 384.) Warum Grey es unterließ, sich in ähnlichem Sinne in Petersburg und Belgrad zu äußern, ist nicht ersichtlich. Diese Grundlage einer Verständigung hätte alle Kriegsabsichten Berchtolds vereitelt. Sie würde eine sichere Verhandlungsbasis, abgegeben haben.
Befristete Noten, die von Kriegsdrohungen begleitet waren, sind in der neueren Geschichte nicht selten gewesen. Es sei an die Noten Englands und Frankreichs an Ägypten 1882, Englands an Portugal 1890, der Vereinigten Staaten von Amerika an Spanien 1898, Englands an Frankreich 1898, Englands an die Türkei 1906, Italiens an die Türkei 1911 erinnert. Wie bereits oben erwähnt, hat Österreich-Ungarn am 18. Oktober 1913 ein Ultimatum an Serbien gerichtet mit der Forderung, binnen acht Tagen Albanien zu räumen. Einzelne der genannten Ultimaten haben zu Kriegen geführt, ohne aber, ebensowenig wie die Balkankriege, eine allgemeine Konflagration zu verursachen. Keine von ihnen war durch die Bedrohung vitaler Interessen des angreifenden Staates hervorgerufen, ein Moment, das bei der Beurteilung des österreichisch-ungarischen Vorgehens 1914 immerhin sehr ins Gewicht fällt. So weitgehend auch die Wiener Forderungen an Serbien waren, so werden sie doch in allen Punkten von den Noten übertroffen, die England, Frankreich und Rußland zu wiederholten Malen 1916 und 1917 an das damals neutrale Griechenland gerichtet haben. Ob der österreichisch-serbische Krieg von irgendeinem Gesichtspunkte aus gerechtfertigt erscheinen kann, mag dahingestellt bleiben. Der Krieg der Vereinigten Staaten mit Spanien, der Burenkrieg, der russisch-japanische Krieg, der italienisch-türkische Krieg und die Balkankriege sind jedenfalls aus geringeren Anlässen entstanden.

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Deutschlands Stellungnahme

 

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