II.
Der österreichisch-serbische Konflikt
2. Die Folgen der Ermordung des Erzherzog-Thronfolgers
Jagow hat dem Untersuchungsausschuß erklärt:
Die Bluttat von Sarajevo hatte eine Tragweite, die über die Durchschnittsbedeutung
von Fürstenmorden hinausging. Das Band, das die national so verschiedenen
Völker Österreich-Ungarns zusammenhielt, war die Dynastie. Schon
der Sprachgebrauch der den unter dem habsburgischen Szepter vereinten
Länderkomplex als "die Monarchie" bezeichnete, brachte
dies zum Ausdruck. Das Attentat gegen den Erzherzog, auf dem die Zukunft
ruhte, bedrohte den Fortbestand des Reiches selbst. Dem greisen Kaiser
stand nach menschlichem Ermessen nur noch eine kurze Lebensfrist bevor;
der nächste Agnat nach dem Thronfolger war ein in den Regierungsgeschäften
noch wenig erfahrener, in der Öffentlichkeit noch kaum hervorgetretener
Jüngling. Der ermordete Franz Ferdinand war als slawenfreundlich
bekannt, von ihm erwartete man eine Lösung der inneren Probleme des
habsburgischen Völkerstaates in föderativem Sinne, mit seinem Tode sanken diese Aussichten zunächst dahin. (A.
a. O., S. 24, 25.)
Der Mord von Sarajevo war eine unmittelbare Folge der serbischerseits
seit Jahren offen betriebenen, von der serbischen Regierung unterstützten
großserbischen Propaganda. Er wurde durch aktive serbische Beamte
und Offiziere angestiftet, begünstigt und ermöglicht. Ein serbischer
Major händigte den Attentätern Waffen (Bomben und Pistolen)
aus serbischen Armeebeständen aus, übte sie in deren Gebrauch
und versah sie mit Reisemitteln. Ein Beamter im serbischen Eisenbahnministerium
bestimmte ihren Reiseweg nach Sarajevo. Serbische Grenzbeamte ermöglichten
den heimlichen Übertritt der Attentäter auf österreichisch-ungarisches
Gebiet und sorgten für das Herüberschmuggeln der Mordwaffen*).
Gegenüber diesen Schuldbeweisen, deren Widerlegung niemals versucht
worden ist, fällt die Frage der Mitwisserschaft der Belgrader Regierung
kaum ins Gewicht. Dieser konnte damals keine unmittelbare Mitschuld nachgewiesen
werden. Sie hat sie jedoch seither selbst auf sich genommen, indem sie
1919 durch eine offizielle kirchliche Feier die Mörder am Orte ihrer
Tat zu Nationalhelden stempelte. Noch ein anderer Vorgang läßt
weitgehende Schlüsse zu. Als die ersten Ententekommissionen nach
dem Waffenstillstand in Wien einzogen, erschien auf den zuständigen
Ministerien ein serbischer Offizier, der im Auftrage seiner Regierung
die Herausgabe aller Akten forderte, die auf den Prozeß von Sarajevo
und auf die großserbische Bewegung Bezug hatten. Willige Hände
lieferten ihm das Verlangte aus. Er beschlagnahmte das umfangreiche Material
und führte es fort. Der Regierung in Belgrad war es offenbar bekannt,
daß noch sehr viel belastendes Material, besonders im ehemaligen
k. u. k. Finanzministerium (dem die Verwaltung Bosniens unterstand), vorlag,
das 1914 nicht zur Verwendung gelangte, weil die Beamten des Ministeriums
des Äußeren, die mit den Nachforschungen betraut waren, sich
in den fremden Akten nicht zurechtfanden und seitens des Finanzministeriums,
das dem Polen Bilinski unterstand, nicht die zu erwartende Unterstützung
fanden**).
Die österreichisch-ungarische Regierung hatte die serbischen Treibereien
die längste Zeit gewähren lassen. Als aber die Gefahren und
Schäden der großserbischen Propaganda durch den Mord von Sarajevo
aller Welt offenbar geworden waren, entschloß sie sich zu einem
Vorgehen in Belgrad. Niemand erwartete etwas anderes. Der belgische Gesandte
in Berlin, ein gewiß unverdächtiger Zeuge, berichtete am 2.
Juli 1914:
*) Pharos, Der Prozeß gegen die Attentäter von Sarajevo (Berlin
1918),
**) Karo (Die Verantwortung der Entente am Weltkriege, S. 57) sagt sehr treffend: Offenbar enthielten diese Akten kein die serbische Regierung
entlastendes Material, sonst wäre dieses längst in alle Welt
ausposaunt worden.
Das Kabinett Paschitsch, das die Augen schloß, um den Herd anarchistischer
Propaganda in Belgrad nicht zu sehen, darf nicht überrascht sein,
daß man von ihm verlangt, energisch gegen die Schuldigen vorzugehen,
anstatt sie immer weiter mit blinder Duldung zu behandeln. (Belgische
Aktenstücke 1905-1914, Nr. 119.)
Die österreichisch-ungarische Regierung zögerte ganz ungebührlich
mit dem erwarteten Schritt und verlor dadurch viel von der moralischen
Unterstützung, die ihr unter dem frischen Eindruck der allgemein
verabscheuten Mordtat sicher gewesen wäre. Die öffentliche Meinung
Europas, die eine aus dem ersten Impuls geborene Sühneaktion geduldet
hätte, auch wenn hierbei sehr scharfe Bedingungen gestellt wurden,
war weniger geneigt, sich mit einem Vorgehen abzufinden, welches offensichtlich
kaltüberlegter politischer Berechnung entsprang. Daß man sich
in Wien zu einem Vorgehen gegen Serbien entschlossen hatte, war freilich
aller Welt aus den Reden Tiszas im Abgeordnetenhause vom 8. und vom 15.
Juli 1914 bekannt. Am 15. Juli antwortete der ungarische Ministerpräsident
auf eine Interpellation: Die Beziehungen zu Serbien müßten
geklärt werden; er könne sich aber, da die Frage in der Schwebe
sei, nicht darüber äußern, in welcher Weise, in welcher
Richtung und mit welchem Inhalt Schritte unternommen werden würden*).
Der serbischen Regierung war hierdurch bekannt gegeben, daß ihr
Forderungen gestellt werden würden**). Deren Formulierung erfolgte
aber erst am 19. Juli 1914. (Österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr
26.)
Das Wiener Kabinett hat der serbischen Regierung somit sehr ausreichende
Zeit gelassen, ihrerseits etwaigen österreichisch-unga-
*) Der bayerische Legationsrat von Schoen hat am 18. Juli berichtet, man
bedaure in Berlin, daß Graf Tisza "durch seine Erklärung
im ungarischen Abgeordnetenhaus den Schleier schon etwas gelüftet
hat" (Deutsche Dokumente, Anhang IV, Nr. 2). Dies Bedauern bezieht
sich vermutlich auf die Äußerung zum Schluß der Erklärung
Tiszas: Jede Nation muß imstande sein, Krieg zu führen, und
muß den Krieg als ultima ratio wollen, wenn Staat und Nation weiterbestehen
soll. Die Warnung an Serbien konnte aber in Berlin nicht gut "bedauert"
werden, hat doch Jagow selbst am 14. Juli dem serbischen Geschäftsträger
erklärt: Österreich-Ungarn könne sich die aufreizende Haltung
und die Angriffe der serbischen Presse als Großmacht nicht gefallen
lassen. (Serbisches Blaubuch Nr. 19.) Am 16. Juli riet er der serbischen
Regierung, die großserbische Propaganda im Interesse ihrer guten
Beziehungen zu Österreich-Ungarn energisch niederzuschlagen (Serbisches
Blaubuch Nr. 26). Am 20. Juli erklärte er schließlich dem serbischen
Geschäftsträger, daß er es wohl begreifen könne,
wenn angesichts der Haltung, die Serbien - trotz fortgesetzter deutscher
Ratschläge - gegenüber der benachbarten Monarchie einnehme,
"man jetzt dort energischere Seiten aufzöge". (Deutsche
Dokumente Nr. 91.)
**) Daß die Rede Tiszas Beachtung fand, beweist Nr. 23 des serbischen
Blaubuches. Der serbische Gesandte in Wien schließt einen Bericht
vom 15. Juli mit den Worten: "Eines steht heute schon fest: Österreich-Ungarn
wird diplomatische Schritte in Belgrad unternehmen, sobald die Untersuchung
in Sarajevo abgeschlossen und der Fall dem Gericht vorgelegt sein wird.
rischen Schritten dadurch zuvorzukommen, daß sie aus eigenem Antriebe
gegen die an dem Morde des Erzherzog-Thronfolgers Mitschuldigen vorging
und Maßnahmen traf, die eine Gewähr für die Zukunft boten.
Nichts dergleichen geschah*). Der Anstiftung des Mordes dringend Verdächtige
konnten rechtzeitig aus Belgrad verschwinden, ohne daß die serbischen
Behörden ihnen nachstellten. Serbischerseits ist der Einwand erhoben
worden, die österreichischungarische Regierung habe während
dieser Zeit keinerlei Ersuchen an Serbien gerichtet, in Belgrad eine Untersuchung
einzuleiten, auch seien ihr nicht die Ergebnisse der Vernehmung der Attentäter
in Sarajevo amtlich mitgeteilt worden. Dem ist entgegenzuhalten, daß
aus den Mitteilungen der Presse aller Welt bekannt war, daß die
Fäden der Verschwörung, der der Erzherzog-Thronfolger zum Opfer
fiel, nach Belgrad führten**). Auch hat der österreichisch-ungarische
Geschäftsträger in Belgrad bereits am 30. Juni auf dem Ministerium
des Äußeren angefragt, welche Schritte seitens der serbischen
Polizei ergriffen worden seien (Österreichisch-ungarisches Rotbuch
1914, Nr. 2, Deutsche Dokumente Nr. 12).
Die serbische Regierung unternahm keinerlei derartige Schritte. Serbien
bekundete auch nicht den Willen, dem Nachbarstaate so weit entgegenzukommen,
wie dies der Anstand im internationalen Verkehr geboten hätte. Während
der ersten drei Wochen des Juli 1914 hallten die serbischen Blätter
von Schmähungen gegen Österreich-Ungarn wider, während
kaum eine Stimme laut wurde, welche mehr als ein formelles Bedauern
für die nationale Trauer der Donau-Monarchie aussprach***). Die serbische
Regierung ihrerseits hat weder Rechtshilfe angeboten, noch irgend einen
Versuch unternommen, den beleidigenden Hetzereien gegen den Nachbarstaat
entgegenzutreten. Die Mitglieder der Regierung wetteiferten auf ihren
*) Die von seiten des Feindbundes oft hervorgehobene Erklärung des
Gesandten Jovanowitsch an den Unterstaatssekretär Macchio vom 30.
Juni (Serbisches Blaubuch Nr. 5) erfolgte nicht im Auftrag der serbischen
Regierung und ist nur als Kondolenzbesuch zu bewerten.
**) Der serbische Gesandte in Wien hat am 6. Juli ausführlich hierüber
berichtet, und namentlich auf die Anschuldigungen hingewiesen, die gegen
Ciganowitsch und Pribitschewitsch erhoben wurden (Serbisches Blaubuch
Nr. 16). Ciganowitsch verschwand drei Tage nach dem Attentat aus Belgrad,
als sein Name in den Zeitungen genannt wurde (österreichisches Rotbuch
1919, I, Nr. 61), ohne daß die serbische Regierung ihm nachstellte
(Serbisches Blaubuch Nr. 39). Erst auf die österreichisch-ungarische
Note vom 23. Juli hin wurde ein Steckbrief gegen ihn erlassen und nunmehr
auch der schwerbelastete Major Tankositsch verhaftet (Serbisches Blaubuch
Nr. 39).
***) Dies hatten Serbiens Freunde anscheinend vorausgesehen. Viviani riet
am 1. Juli, Sasonow am 4. Juli eindringlich zu Ruhe und Wohlverhalten
(Serbisches Blaubuch Nr. 13 und 14). Auch der serbische Gesandte in Wien
warnte am 6. Juli vor den Folgen der Haltung der serbischen Presse (Serbisches
Blaubuch Nr. 15).
Wahlreisen mit den Abgeordneten aller Parteien in Kundgebungen der Feindschaft
und Unnachgiebigkeit gegen Österreich-Ungarn. Es stand somit zu erwarten,
daß die serbische Regierung selbst angesichts der verbrecherischen
Folgen ihrer Österreich-Ungarn gegenüber geführten Politik
nicht bereit und geneigt war, andere Bahnen einzuschlagen und das ihre
beizutragen, um ihr Verhältnis zur Nachbarmonarchie in ein friedliches
und erträgliches umzugestalten.
Österreich-Ungarn faßte daher von vornherein scharfe Mittel
ins Auge. Allem Anschein nach hat die Haltung Serbiens während der
ersten Juli-Wochen zu einem besonders energischen Vorgehen der Wiener
Regierung beigetragen. Das österreichische Rotbuch von 1919 und die
quellenkritische Studie von Gooss*) enthüllen interessante Einzelheiten
über die Entstehung der österreichisch-ungarischen Note und die
Verhandlungen zwischen Wien und Budapest. Diesen Interna ist nicht allzu
große Bedeutung beizumessen. Ein schwankender Charakter mehr oder
weniger, eine List oder eine Lüge zu viel haben auf das Vorgehen
der Wiener Regierung sicherlich weniger Einfluß gehabt, als die
allgemeine Stimmung in den Donauländern. Das Gesamtbild, das sich
aus den österreichisch-ungarischen Akten ergibt, ist das folgende:
Berchtold strebte eine kriegerische Lösung an. Weshalb er eine andere
Lösung von vornherein ablehnte, ist nicht recht erkennbar. Tisza
wollte anfangs eine Lösung, wie sie damals wohl jeder vernünftige
Politiker - auch in Berlin - erwartet hatte, ein Verfahren, das möglicherweise
den beabsichtigten Erfolg erzielt haben würde. Er empfahl "ein
ernstes und energisches Vorgehen in Belgrad" in Gestalt einer "in
gemessenem, aber nicht drohendem Tone gehaltenen Note", welche "konkrete
Beschwerden" und "präzise Petita" enthielt, so daß
Serbien die Möglichkeit bliebe, "den Krieg im Wege einer, allerdings
schweren, diplomatischen Niederlage zu vermeiden". (Österreichisches
Rotbuch 1919,1, Nr. 12.) Weshalb sich der ungarische Ministerpräsident
in der Ministerbesprechung vom 14. Juli (Österreichisches Rotbuch
1919, I, Nr. 19) umstimmen ließ, ist nicht recht ersichtlich, doch
scheint die Haltung der Belgrader Regierung das Wesentlichste hierzu beigetragen
zu haben (Deutsche Dokumente Nr. 49). Berchtold hat sowohl Tisza wie den
Kaiser Franz Joseph besonders dadurch im Sinne des von ihm angestrebten
scharfen Vorgehens zu beeinflussen gesucht, daß er darauf hinwies,
die deutsche Regierung erwarte ein energisches Einschreiten gegen Serbien.
Es ist zweifellos richtig, daß in Berlin eine radikale Lösung
erwartet und gewünscht wurde. Dafür, daß Wien deutscherseits
zu einem schärferen Vorgehen gedrängt worden ist, als es selbst
beabsichtigte, fehlt jeder
*) Roderich Gooss, Das Wiener Kabinett und die Entstehung des Weltkrieges.
(Wien, 1919.)
Anhalt in den Deutschen Dokumenten. Hingegen fällt die Unterlassung
jeder Warnung auf, die man auf die zahlreichen Berichte der Wiener Botschaft
hin, welche über Berchtolds Absicht einer kriegerischen Lösung
des Konflikts Mitteilungen machten (Deutsche Dokumente Nr. 19, 29, 49,
65, 87), erwarten könnte. Berchtold hat aber die deutsche Regierung
immer nur zu einem geringen Teil in seine Pläne eingeweiht. Er hat
ihr keinen reinen Wein eingeschenkt. Über die im Wiener Ministerrat
vom 19. Juli (Österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 26) vorgesehenen
Annexionen oder "Grenzberichtigungen" ist offenbar nie ein Wort
nach Berlin gelangt. Am 20. Juli versicherte vielmehr Berchtold dem deutschen
Botschafter, es sei "beschlossen worden, von jeder dauernden Einverleibung
fremden Gebietes abzusehen". (Deutsche Dokumente Nr. 94.) Auch sonst
waren die Mitteilungen über das beabsichtigte österreichisch-ungarische
Vorgehen im Ausdruck wenig bestimmt gehalten, so daß Jagow wiederholt
fragen mußte, wohin eigentlich der Weg führen solle (Deutsche
Dokumente Nr. 61, Österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 41).
Im übrigen muß bei der Beurteilung der Haltung der Wiener Regierung
berücksichtigt werden, daß nach der damals herrschenden, anscheinend
gerechtfertigten Auffassung durch eine Bestrafung der Mitschuldigen an
dem Morde in Sarajevo eine dauernde Klärung der austro-serbischen
Beziehungen nicht erreicht worden wäre, daß vielmehr die Lage
es als unumgänglich erheischte, das Übel der großserbischen
Agitation an der Wurzel zu packen, wenn es gelingen sollte, in diesem
Wetterwinkel Europas Ruhe zu schaffen. Man darf annehmen, daß Bethmann
Hollweg in seinen Ausführungen für den Untersuchungsausschuß
die damalige Auffassung richtig wiedergibt. Er sagte:
Die absolute Treulosigkeit der serbischen Politiker war in Wien bekannt.
Mit milden Mitteln war nichts mehr zu erreichen. Versprechungen wären
mit dem Willen gegeben worden, sie bei der ersten guten Gelegenheit zu
brechen. Ließ sich Österreich auf diese oft geübte serbische
Taktik ein, so war die moralische Auflösung des österreichisch-ungarischen
Staates vollzogen. Der letzte mögliche Augenblick war da, um die
österreichische Autorität bei der südslawischen Welt wiederherzustellen.
Sollte er nicht unwiederbringlich verloren gehen, so mußte fest
und schnell zugegriffen werden. (A. a. O., S. 21.)
Österreich-Ungarn sah sich demgemäß veranlaßt, die
Forderungen, die es zur Sühnung des Mordes von Sarajevo und zur Erreichung
von Sicherungen für Serbiens künftiges Wohlverhalten stellte,
in eine sehr scharfe Form zu kleiden, in Kenntnis der von Serbien beliebten
Methoden, für ihre Annahme eine bestimmte Frist zu setzen und ihre
in Belgrad überreichte Note zu veröffentlichen.
Die Bekanntgabe der an Serbien gerichteten Forderungen (die vielfach als
eine unnötige Verschärfung des österreichisch-ungarischen
Schrittes angesehen worden ist) erscheint selbstverständlich, da Serbien durch sein Verhalten nicht nur die Pflichten eines friedlichen
Nachbarn verletzt hatte, sondern auch die Zusicherungen, die es auf
Drängen der Mächte in der am 31. März 1909 in Wien überreichten
Note übernommen hatte. In dieser Note verpflichtete .sich Serbien,
"die Richtung seiner gegenwärtigen Politik gegenüber "Österreich-Ungarn
zu ändern und künftighin mit diesem letzteren auf dem Fuße
freundnachbarlicher Beziehungen zu leben". Die serbische Regierung
tat jedoch so gut wie nichts, um ein friedliches Verhältnis zur Nachbarmonarchie
herbeizuführen. Sie pflegte vielmehr den Geist des Hasses gegen Österreich-Ungarn
und zettelte in den Grenzländern der Monarchie eine wohlorganisierte
subversive Bewegung an. Gegen diese großserbische Propaganda richtete
sich letzten Endes die österreichisch-ungarische Aktion von 1914.
Insoweit die panserbische Agitation nicht als Ursache des Attentates von
Sarajevo anzusehen ist, kann man sagen, daß die Ermordung des Erzherzogs
zum "Vorwand" genommen wurde. Sofern dieser Zusammenhang aber
bestand, und das ist damals in Berlin jedenfalls angenommen worden, war
jener Mord ein berechtigter Anlaß zum Einschreiten und zur Behebung
der Ursachen des Übels. Fragwürdig erscheint, auch vom damaligen
Standpunkt aus, in erster Linie die Wahl der Mittel.
Bei der Bewertung der österreichisch-ungarischen Note wird vielfach
vorausgesetzt und zu Unrecht geglaubt, daß sie Forderungen enthalten
habe, die bis dahin unerhört waren. Die Annahme, daß sie ohne
Gegenstück in der Geschichte sei, beruht jedoch auf Irrtum. Durch
die Forderungen der Pariser Friedensverträge von 1919 und die Noten
der Alliierten aus der Nachkriegszeit wird sie natürlich in jeder
Hinsicht in den Schatten gestellt. Auch die Noten, die der Feindbund während
des Krieges an neutrale Staaten, wie Griechenland, gerichtet hat, gehen
über die österreichisch-ungarische vom 23. Juli 1914 hinaus.
Weniger häufig erinnert man sich aber daran, daß z. B. England
und Frankreich in ihrem Ultimatum vom 25. Mai 1882 von Ägypten die
Verbannung des Kriegsministers und anderer Führer der nationalen
Bewegung sowie den Rücktritt der gesamten Regierung verlangten. Es
lag damals keine Provokation vor, wie die serbische gegenüber
Österreich-Ungarn, um diese Forderungen zu rechtfertigen, die um
ein Wesentliches die der Wiener Regierung übertrafen. Das englische
Ultimatum an Portugal vom 5. Januar 1890 stellte eine Frist von weniger
als drei Tagen, ebenso das der Vereinigten Staaten an Spanien vom 20.
April 1898. Dieses letztere Ultimatum sollte freilich eingestandenermaßen
den Krieg herbeiführen, wie auch das italienische Ultimatum an die
Türkei vom .28. September 1911, das mit nur 24 Stunden befristet
war. Es liegt auf der Hand, daß die österreichisch-ungarische
Note an Serbien in Feindbundkreisen deshalb besonders abfällig beurteilt
worden ist, weil ihr die weitgehenden Zwecke unterstellt wurden., die
man selbst bei ähnlichen Anlässen verfolgt hatte. Jeder gerechten
Beurteilung müßte aber eine Würdigung des gegebenen Anlasses
und die verfolgten Ziele vorhergehen.
Eine Kritik der Note selbst dürfte sich heute jedoch erübrigen,
zumal die deutsche Regierung seinerzeit an der Abfassung selbst nicht
beteiligt war. Nur zwei Fragen sind bezüglich des Ultimatums noch
von Interesse: ob diese Note eine friedliche Lösung des Konfliktes
überhaupt zuließ, und ob sie den damaligen politischen Gebräuchen
entsprach. Die dritte Frage, ob Serbien, seinen eigenen Entschließungen
folgend, eine andere Stellung zum österreichischungarischen Ultimatum
eingenommen hätte, als geschehen ist, kann heute noch nicht beantwortet
werden.
Zur Frage, ob die Note eine friedliche Lösung zuließ, gehört
die Vorfrage, ob ihre Annahme denkbar gewesen wäre. Es sei deshalb
auf den Vorschlag der italienischen Regierung vom 27. Juli hingewiesen,
daß die vier Mächte (Deutschland, Italien, England und Frankreich)
Serbien den Rat erteilen sollten, die Note uneingeschränkt anzunehmen
(Englisches Blaubuch Nr. 57); ferner auf die Mitteilung des serbischen
Geschäftsträgers in Rom vom 28. Juli, wonach Serbien die österreichische
Note nach Erläuterung der Punkte 5 und 6 nachträglich noch annehmen
würde (Englisches Blaubuch Nr. 64; Deutsche Dokumente Nr. 357; vgl.
auch Deutsche Dokumente Nr. 249). Anscheinend hat San Giuliano diese Erklärung
nur nach London und Grey dieselbe nur nach Berlin weitergegeben. Bethmann
Hollweg bezeichnete "ein derartiges Nachgeben Serbiens als geeignete
Basis für Verhandlungen". (Deutsche Dokumente Nr. 384.) Warum
Grey es unterließ, sich in ähnlichem Sinne in Petersburg und
Belgrad zu äußern, ist nicht ersichtlich. Diese Grundlage einer
Verständigung hätte alle Kriegsabsichten Berchtolds vereitelt.
Sie würde eine sichere Verhandlungsbasis, abgegeben haben.
Befristete Noten, die von Kriegsdrohungen begleitet waren, sind in der
neueren Geschichte nicht selten gewesen. Es sei an die Noten Englands
und Frankreichs an Ägypten 1882, Englands an Portugal 1890, der Vereinigten
Staaten von Amerika an Spanien 1898, Englands an Frankreich 1898, Englands
an die Türkei 1906, Italiens an die Türkei 1911 erinnert. Wie
bereits oben erwähnt, hat Österreich-Ungarn am 18. Oktober
1913 ein Ultimatum an Serbien gerichtet mit der Forderung, binnen acht
Tagen Albanien zu räumen. Einzelne der genannten Ultimaten haben
zu Kriegen geführt, ohne aber, ebensowenig wie die Balkankriege,
eine allgemeine Konflagration zu verursachen. Keine von ihnen war durch
die Bedrohung vitaler Interessen des angreifenden Staates hervorgerufen,
ein Moment, das bei der Beurteilung des österreichisch-ungarischen Vorgehens 1914 immerhin sehr ins Gewicht fällt.
So weitgehend auch die Wiener Forderungen an Serbien waren, so werden
sie doch in allen Punkten von den Noten übertroffen, die England,
Frankreich und Rußland zu wiederholten Malen 1916 und 1917 an das
damals neutrale Griechenland gerichtet haben. Ob der österreichisch-serbische
Krieg von irgendeinem Gesichtspunkte aus gerechtfertigt erscheinen kann,
mag dahingestellt bleiben. Der Krieg der Vereinigten Staaten mit Spanien,
der Burenkrieg, der russisch-japanische Krieg, der italienisch-türkische
Krieg und die Balkankriege sind jedenfalls aus geringeren Anlässen
entstanden.
Weiter:
Deutschlands Stellungnahme
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