III.
Das Verhalten der Mächte
1. Der deutsche Lokalisierungsvorschlag
A. Die deutsche Auffassung
Die deutsche Regierung ist offenbar der Ansicht gewesen, daß auch
im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Österreich-Ungarn
und Serbien die Möglichkeit einer Gefährdung des europäischen
Friedens durch Lokalisierung des Konfliktes ausgeschlossen werden könne.
Bei einem österreichisch-serbischen Krieg ließen sich die Rechte
und legitimen Interessen dritter Staaten auf dem Wege diplomatischer
Verhandlungen
wahren, wenn nur ein direktes Eingreifen in den österreichisch-serbischen
Streit unterblieb. Der Gang der Ereignisse hat dieser Auffassung insofern
recht gegeben, als durch die vermittelnde Tätigkeit der deutschen
Regierung die Grundlage für eine Verständigung gefunden wurde,
die alle Beteiligten befriedigen konnte. Lediglich die Haltung der russischen
Regierung, die ohne jegliche Provokation deutscherseits Heer und Flotte
gegen das die Vermittlung betreibende Deutsche Reich mobilisierte, hat
die Möglichkeit vernichtet, einen Ausgleich zu schaffen.
Andererseits war es von vornherein klar, daß jedes Eingreifen dritter
Mächte infolge der verschiedenen Bündnispflichten unabsehbare
Folgen nach sich ziehen würde. Die deutsche Regierung wies daher,
noch ehe sie den Wortlaut des österreichisch-ungarischen Ultimatums
kannte, ihre Botschafter an, bei den Regierungen der Dreiverbandsmächte
zu erklären, daß es das ernste Bestreben der Mächte sein
müsse, den ausbrechenden Konflikt auf die beiden direkt Beteiligten
zu beschränken, da es sich in der vorliegenden Frage um eine lediglich
zwischen Österreich-Ungarn und Serbien zum Austrag zu bringende Angelegenheit
handele. (Deutsche Dokumente Nr. 100.)
Es sei daran erinnert, daß die französische Regierung, die
über die Entstehung des Balkanbundes und seine Ziele genau unterrichtet war, zu Anfang des ersten Balkankrieges eine sicherlich mit Petersburg
vereinbarte Formel für eine allseitige Desinteressementserklärung
vorschlug. Dies entspricht dem deutschen Lokalisierungsvorschlag, der
gegen Rußland gerichtet war, ebenso wie die französische Formel
von 1912 sich gegen Österreich-Ungarn richtete. Ob sich der deutsche
Lokalisierungsplan unter den gegebenen Verhältnissen überhaupt
durchführen ließ, und welche Voraussetzungen dazu erforderlich
gewesen wären, läßt sich heute wohl nicht mehr mit Sicherheit
feststellen. Aus dem amtlichen Aktenmaterial geht aber zweifelsfrei hervor,
daß man in Berlin von der Zweckmäßigkeit dieser Politik
überzeugt war und auf ihren Erfolg hoffte. Noch vor dem Untersuchungsausschuß
erklärte Bethmann Hollweg:
Die Politik der Lokalisierung, so stark sie später verurteilt worden
ist, und so skeptisch und ironisch sie auch schon, während wir sie
betrieben, von einer Reihe fremder Staatsmänner und auch von einem
deutschen Botschafter (gemeint ist Lichnowsky) beurteilt wurde, war doch
nicht von vornherein aussichtslos. (Beilage 1, S. 21.)
Jagow urteilte nicht anders:
Um ein Übergreifen und eine allgemeine Konflagration, die das europäische
Bündnissystem möglich erscheinen ließ, zu verhüten,
haben wir unser Bestreben darauf gerichtet, die Austragung des Streites
auf Österreich und Serbien zu beschränken, denselben zu "lokalisieren".
Diesen Standpunkt haben wir von Anfang an eingenommen und festgehalten.
Auch darin, daß wir es Wien überließen, sich darüber
schlüssig zu werden, welche Maßnahmen es gegen Serbien für
nötig befinden würde. Es war ein österreichisch-serbischer,
kein deutsch-serbischer Streitfall; wir wollten eine Verantwortung durch
Einmischung in denselben weder Österreich noch den anderen Mächten
gegenüber übernehmen. Eine Beteiligung an der Bestimmung des
österreichischen Vorgehens hätte unsere spätere Haltung
präjudiziert und uns der Aktionsfreiheit für eine eventuell
nötig werdende Vermittlung unter den Mächten beraubt. (A. a.
O., S. 27.)
B. Aufnahme in Frankreich
Der deutsche Lokalisierungsvorschlag fand in Paris zunächst eine
freundliche Aufnahme. Der deutsche Botschafter konnte am 24. Juli melden:
Der den Ministerpräsidenten vertretende Justizminister, bei dem ich
mich im Sinne Erlasses 918 (Deutsche Dokumente Nr. 100) aussprach, war
sichtlich erleichtert von unserer Auffassung, daß österreichisch-serbischer
Konflikt lediglich zwischen den beiden Beteiligten zum Austrag zu bringen.
Französische Regierung teile aufrichtig Wunsch, daß Konflikt
lokalisiert bleibe und werde sich in diesem Sinne im Interesse der Erhaltung
des europäischen Friedens bemühen. Sie verhehle sich dabei freilich
nicht, daß es einer Macht wie Rußland, die mit panslawistischer
Strömung zu rechnen habe, nicht leicht fallen könnte, sich vollständig
zu desinteressieren, namentlich dann, wenn Österreich-Ungarn auf
sofortiger Erfüllung aller Forderungen bestehen sollte, auch solchen,
welche mit serbischer Souveränität schwer vereinbar oder materiell
nicht sogleich ausführbar... (Deutsche Dokumente Nr. 154.)
In seinen Erinnerungen betont Schoen, daß die Antwort des Ministers
"vermutlich nicht aus dem Stegreif gegeben, vielmehr das Ergebnis
von Erwägungen war, die in Erwartung einer österreichischungarischen
nachdrücklichen Forderung und auf Grund der einlaufenden Nachrichten
und Ansichten der französischen Vertreter stattgefunden hatten"*).
Die Anhänger einer Einmischungspolitik am Quai d'Orsay haben es aber
nicht bei der verständigen Auffassung bewenden lassen, die der stellvertretende
Minister des Äußern, Bienvenu-Martin, am 24. Juli vertrat.
Das französische Gelbbuch (Nr. 28) gibt bereits eine Darstellung
der Unterredung des Botschafters mit dem Minister, die von der Schoens
nicht unwesentlich abweicht. Das französische Ministerium des Äußern
glaubte damals anscheinend, der deutsche Lokalisierungsvorschlag sei allein
in Paris unterbreitet worden, und legte ihn als Drohung gegen Frankreich
aus (Russisches Orangebuch Nr. 29). Diese Auffassung teilte es der Presse
mit. Am 25. Juli früh brachte der "Echo de Paris" eine
in diesem Sinne entstellte Wiedergabe der Erklärung des deutschen
Botschafters; andere Blätter haben sich diese Darstellung ebenfalls
zu eigen gemacht. Die Schritte, die Schoen unternahm, um diese irrige
Auffassung richtig zu stellen, haben im französischen Gelbbuch (Nr.
36, ebenso Russisches Orangebuch Nr. 19) eine gehässige und offensichtlich
tendenziös entstellte Auslegung erfahren.
Es ist sehr wohl möglich, daß der Umschwung der amtlichen französischen
Auffassung auf Weisungen zurückzuführen ist, die inzwischen
von Poincare und Viviani eingingen. Schoen (a. a. O.) nimmt dies an und
sieht hierin den Grund für die Unterdrückung der ursprünglichen,
günstigen Aufnahme des deutschen Lokalisierungsvorschlages bei der
Veröffentlichung des französischen Gelbbuchs.
C. Aufnahme in England
Der deutsche Lokalisierungsvorschlag entsprach insofern der damaligen
Auffassung der englischen Regierung, als diese wiederholt erklärte,
sich in den österreichisch-serbischen Streit nicht einmischen und
nur im Falle eines österreichisch-russischen Konfliktes eingreifen
zu wollen. Am 24. Juli sagte Grey dem deutschen Botschafter, "wenn
das österreichische Ultimatum an Serbien nicht zu Schwierigkeiten
zwischen Österreich und Rußland führe, hätte er nichts
damit zu tun". (Englisches Blaubuch Nr. 11, Deutsche Dokumente Nr.
157.) Ebenso sagte er am 25. Juli, daß er "kein Recht habe,
sich zwischen Österreich und Serbien einzu-
*) W. Freiherr v. Schoen, Erlebtes, Stuttgart 1921, S. 164.
mischen" (Englisches Blaubuch Nr. 25), da dieser Streit "ihn
nichts angehe". (Deutsche Dokumente Nr. 180).
Die englische Regierung ist jedoch nicht bei dieser Auffassung verblieben.
Sie gab sie am 26. Juli auf. Aus welchen Gründen dies geschah, ist
bisher nicht bekannt. Das englische Blaubuch (Nr. 10) berichtet jedoch,
daß der französische Botschafter bereits am
24. Juli versuchte, Grey zu einer Intervention in Wien zu bewegen.
D. Aufnahme in Rußland
Die russische Regierung stellte sich von vornherein auf einen dem deutschen
entgegengesetzten Standpunkt. Sie hat, offenbar in dem fünfstündigen
Ministerrat vom 24. Juli nachmittags, also noch vor der Mitteilung des
deutschen Lokalisierungsvorschlages, die Einmischung in den austro-serbischen
Konflikt beschlossen. Ein amtliches Kommunique vom 24. Juli abends besagte,
"die Regierung verfolge aufs aufmerksamste den Verlauf des österreichisch-serbischen
Konfliktes, dem Rußland nicht gleichgültig gegenüberstehen
könne", (österreichisch-ungarisches Rotbuch 1914, Nr. 15,
Russisches Orangebuch Nr. 10.) Die russische Einmischungspolitik sollte
durch militärischen Druck unterstützt werden. In dem vorerwähnten
Ministerrat hat "der Kriegsminister (Suchomlinow) sehr energisch
gesprochen und bestätigt, daß Rußland zum Kriege bereit
sei, und die übrigen Minister haben sich voll angeschlossen; es wurde
in entsprechendem Geist ein Bericht an den Zaren fertiggestellt, und dieser
Bericht wurde an demselben Abend bestätigt". (Schreiben des
Adjutanten eines Großfürsten vom 25. Juli 1914, Aktenstücke zum Kriegsausbruch, 1915, S. 57. Vgl.
auch Deutsche Dokumente Nr. 205.) Ferner wurde der Beschluß gefaßt,
im geheimen die vierundzwanzig Millionen Rubel abzuheben, die die russische
Regierung bei deutschen Banken gut hatte. (Paleologue, a. a. 0., S. 249.)
Bereits an diesem Tage sah man also einem alsbaldigen Konflikt mit Deutschland
entgegen.
Schon am 25. Juli wurden umfassende militärische Maßnahmen
gegen Österreich-Ungarn beschlossen (Telegramm des Zaren an den Kaiser
vom 30. Juli. Deutsche Dokumente Nr. 390). Diese Haltung entsprach, wie
das französische Gelbbuch (Nr. 22) zeigt, der bereits vor Überreichung
der österreichisch-ungarischen Note zwischen Rußland und Frankreich
vereinbarten Einmischungspolitik. Diese wiederum hat, wie die serbischen
Enthüllungen ergeben, ihre Ursache in den russischerseits Serbien
seit Jahren gemachten Zusicherungen hinsichtlich einer dereinst zu gewährenden
Unterstützung gegen Österreich-Ungarn und des Erwerbs österreichisch-ungarischer
Gebietsteile.
Weiter:
Rußlands Stellungnahme zum austro-serbischen Konflikt
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