IV.
Der österreichisch-russische Konflikt
1.
Direkte Besprechungen zwischen Wien und Petersburg
Die deutsche Regierung erwartete die Beilegung des drohenden österreichisch-russischen
Konfliktes von den direkten Besprechungen, die der russische Minister
des Äußern am 26. Juli unter Aufgabe seiner ursprünglichen,
unversöhnlichen Haltung im Anschluß an seine Unterredungen
mit dem österreichisch-ungarischen und dem deutschen Botschafter
vorgeschlagen hatte. Sasonow hat später erklärt, daß er
diese Anregung Pourtales Rate verdanke (Englisches Blaubuch Nr. 78, vgl.
Deutsche Dokumente Nr. 238)**).
*) Siehe Poincare, a. a. O.. S. 213. **) Grey hatte bereits am 20. Juli
in einem
Telegramm nach Petersburg erklärt, daß im Falle von
Verwicklungen eine direkte Aussprache zwischen Österreich-Ungarn
und Rußland wünschenswert sei (Oman, S. 18). Am 23. Juli
empfahl
er sowohl Mensdorff wie Benckendorff den direkten Gedankenaustausch zwischen
Wien und Petersburg (österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 53, Englisches
Blaubuch Nr. 3, Oman, S. 18).
Deutscherseits war allerdings wohl nicht bekannt, daß Sasonow in
seinem Telegramm nach Wien (Russisches Orangebuch Nr. 25) das Ansinnen
gestellt hatte, den österreichisch-ungarischen Botschafter in Petersburg
zu ermächtigen, gemeinsam mit ihm "einige Artikel der Note vom
23. Juli umzuarbeiten"*). Sonst würde man in Berlin wohl keine
großen Hoffnungen an diese Besprechungen geknüpft haben. Daß
die Wiener Regierung in eine Abänderung der von ihr gestellten Forderungen
gemäß den nicht näher bezeichneten Wünschen Sasonows
einwilligte und damit Rußland zum Richter in ihrem Streit mit Serbien
einsetzte, war nicht zu erwarten. Hingegen wäre eine Verständigung
über die Wahrung berechtigter Interessen Rußlands bei der Durchführung
der österreichischungarischen Aktion sehr wohl möglich gewesen.
In diesem Sinne wurde auch der russische Vorschlag am 27. Juli deutscherseits
nach Wien weitergegeben (vgl. Deutsche Dokumente Nr. 238, 277) und am
28. Juli nach Petersburg mitgeteilt, man hoffe, daß Österreich-Ungarns
territoriale Desinteressementserklärung Rußland genügen
und als Basis für weitere Verständigung dienen werde (Deutsche
Dokumente Nr. 300).
In Wien war man aber, wie heute bekannt ist, fest entschlossen, unter
allen Umständen es zum Kriege gegen Serbien kommen zu lassen. Am
28. Juli erfolgte die Kriegserklärung, und am gleichen Tage lehnte
die österreichisch-ungarische Regierung es nicht nur ab, ihre Note
vom 23. Juli zu erörtern oder abzuändern, sondern auch über
den Wortlaut der serbischen Antwort zu verhandeln (Österreichisches
Rotbuch 1919, II, Nr. 95, Russisches Orangebuch Nr. 45). Österreich-Ungarn
hatte aber seit der Erklärung Berchtolds vom 24. Juli (Österreichisches
Rotbuch 1919, II, Nr.23) wiederholt sich bestrebt gezeigt, Rußland
über seine Absichten gegen Serbien zu beruhigen und eine Verständigung
über sein Vorgehen herbeizuführen. Am 25. Juli wurde der österreichisch-ungarische
Botschafter in Petersburg angewiesen, zu erklären, daß die
Monarchie in Serbien keine eigennützigen Motive verfolge, keinen
territorialen Gewinn anstrebe**) und auch die Souveränität Serbiens
nicht anzu-
*) Sasonow meinte, "auf diese Weise würde es vielleicht gelingen,
eine Formel zu finden, die für Serbien annehmbar wäre und gleichzeitig
Osterreich in den wichtigsten Forderungen Genugtuung geben werde".
Er wollte also selbst darüber entscheiden, was Serbien annehmen könne!
**) Berchtold hat allerdings von dem Verzicht auf Annexionen, den Tisza
im Ministerrat vom 19. Juli (Österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr.
26) durchgesetzt hatte, nicht den zu erwartenden vollen Gebrauch gemacht.
Nicht allein Tisza glaubte, daß dies Moment die Spannung mildern
werde, vor allem legte die deutsche Regierung ihm große Bedeutung
bei (Deutsche Dokumente Nr. 198, 199, 200, 219, 279, 300, 307, 380), und
auch der österreichisch-ungarische Botschafter in Petersburg hoffte
mit ihm zu Ergebnissen zu gelangen. Er fragte am 24. Juli an, wann er
zur Verwertung des Moments des territorialen Desinteressements ermächtigt werde (Österreichisches Rotbuch II, Nr.
19). Berchtold gab ihm am 25. Juli die Weisung, diese Frage vorläufig
nicht zu berühren (österreichisches Rotbuch 1919, II, Nr. 40).
Diese Haltung des Außenministers erscheint unverständlich,
auch wenn man berücksichtigt, daß er - obwohl selbst ein Ungar
- von Anfang an ein Gegner des annexionsfeindlichen ungarischen Programms
war.
Szapary erhielt die erbetene Ermächtigung erst am 27. Juli, infolge
persönlichen Eingreifens des Kaisers Franz Joseph (Gooss, S. 210).
Die Weisung Berchtolds enthielt aber auch dann nicht den bedingungslosen
Verzicht, der vom Wiener Ministerrat am 19. Juli beschlossen worden war.
Es heißt vielmehr in dem Telegramm, daß die Monarchie keinerlei
territoriale Eroberungen beabsichtige, solange der Krieg zwischen Österreich-Ungarn
und Serbien lokalisiert bleibe (österreichisches Rotbuch 1919, II,
Nr. 75).
tasten gedächte (österreichisches Rotbuch 1919, II, Nr. 42).
Die von Sasonow am 24. Juli (österreichisches Rotbuch 1919, II, Nr.
17, 18) besonders beanstandete Forderung, betreffend die Beteiligung von
österreichisch-ungarischen Funktionären bei der Unterdrückung
der subversiven Bewegung in Serbien, wurde am 25. Juli in entgegenkommendem
Sinne erläutert (österreichisches Rotbuch 1919, II, Nr. 38).
Am 26. Juli erklärte der österreichisch-ungarische Botschafter
in Petersburg, die anscheinend dort vielfach gehegten Befürchtungen,
daß es sich bei dem Vorgehen gegen Serbien um einen Eroberungsfeldzug
oder einen Präventivkrieg gegen Rußland handele, seien gänzlich
unbegründet. "Niemand in Österreich-Ungarn falle es ein,
russische Interessen bedrohen oder gar Händel mit Rußland suchen
zu wollen" (Österreichisches Rotbuch 1919, II, Nr. 73). Trotzdem
sah Sasonow in der Ablehnung der österreichisch-ungarischen Regierung,
in eine Erörterung der Notentexte einzutreten, eine Weigerung des
Wiener Kabinetts, überhaupt in einen Meinungsaustausch mit Rußland
zu willigen (Russisches Orangebuch Nr. 50). Diese Auslegung der Wiener
Antwort bildete jedoch nur einen Vorwand, um die direkten Besprechungen
zwischen Wien und Petersburg als gescheitert hinzustellen; denn bereits
am 28. Juli hatte Sasonow erklärt, die Kriegserklärung an Serbien
mache diesen Verhandlungen ein Ende (Englisches Blaubuch Nr. 70, Russisches
Orangebuch Nr. 48).
Das Abbrechen des direkten Meinungsaustausches zwischen Petersburg
und Wien bedeutete eine für Berlin unerwartete und ernste Verschärfung
der österreichisch-russischen Spannung. Nicht nur die deutsche Regierung
hatte von den direkten austro-russischen Verhandlungen die Lösung
des Konfliktes erwartet. Auch Grey sprach sich mehrfach dafür aus
(Deutsche Dokumente Nr. 357, Österreichisches Rotbuch 1919, II, Nr.
92, III, Nr. 42, Englisches Blaubuch Nr. 67, 68, 74, 84, Französisches
Gelbbuch Nr. 80), und sogar der französische Botschafter in Petersburg
hat sie befürwortet (Französisches Gelbbuch Nr. 54).
Dank dem Eingreifen der deutschen Regierung wurde das Mißverständnis,
betreffend die österreichisch - ungarische Ablehnung, beseitigt und
die direkte Aussprache zwischen Wien und Petersburg wieder aufgenommen
(Deutsche Dokumente Nr. 396, 448, Österreichisches Rotbuch 1919,
III, Nr. 45). Ihre Anstrengungen waren bekannt. Selbst die Londoner "Times"
schrieben In ihrem Leitartikel vom 30. Juli: Es ist ein offenes Geheimnis,
daß Deutschland sein möglichstes tut, um den Draht zwischen
der russischen und der österreichischen Hauptstadt wieder anzuknüpfen
- to restore the wire. (Montgelas, Glossen, S. 22.) Es wird auf diese
Bemühungen zurückzukommen sein.
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