V.
Die deutsch-russische Krise
3. Die russische Gesamtmobilmachung
Am 29. Juli mittags teilte Sasonow dem deutschen Botschafter mit, daß
die russische Mobilmachung gegen Österreich-Ungarn beschlossen sei
und in wenigen Stunden veröffentlicht werden solle. Der Botschafter
bezeichnete diesen Schritt als für den Frieden äußerst
gefährlich und wies, wie er dies schon wiederholt an den vorhergehenden
Tagen getan hatte, darauf hin, daß die Mobilmachung gegen Österreich-Ungarn
sich auch gegen Deutschland richte, da Deutschlands vertragsmäßige
Verpflichtungen gegen diese Macht allgemein bekannt seien (Deutsche Dokumente
Nr. 343).
Noch am gleichen Tage wurde jedoch die Gesamtmobilmachung beschlossen*).
Mit dem Befehl des Zaren in der Tasche, versicherte der russische Generalstabschef
um 3 Uhr nachmittags dem deutschen Militärattache, in den militärischen
Vorkehrungen Rußlands sei keine Änderung eingetreten. Nirgends
sei bisher eine Mobilmachung erfolgt und werde auch an den deutschen
Grenzen
nicht beabsichtigt (Deutsche Dokumente Nr. 370).
*) Rene Puaux, Les Etudes de la Guerre, Heft 2, S. 131. (Amtliche russische
Mitteilung vom 5. September 1917.)
Abends zwischen 6 und 7 Uhr warnte der deutsche Botschafter gemäß
dem Telegramm vom selben Tage (Deutsche Dokumente Nr. 342) erneut vor
den Folgen einer Mobilmachung (Deutsche Dokumente Nr. 378). Sasonow hat
diese Mitteilung sehr erregt entgegengenommen und sie, obwohl ihr Inhalt
genau mit den früheren Warnungen übereinstimmte, als Drohung
ausgelegt, die er als Rechtfertigung der bereits beschlossenen Mobilmachung
gegen Deutschland zu benutzen suchte. Er telegraphierte nach Paris und
London:
Der deutsche Botschafter erklärte mir heute den Beschluß seiner
Regierung, die eigene Mobilisierung durchzuführen, wenn Rußland
die von ihm betriebenen militärischen Vorbereitungen nicht einstellt.
Indessen sind diese von uns nur infolge der bereits stattgefundenen Mobilisation
von acht Korps in Österreich und infolge der offenbaren Unlust des
letzteren, auf irgendwelche Weise der friedlichen Beilegung des eigenen
Streites mit Serbien zuzustimmen, vorgenommen worden.
Da wir den Wunsch Deutschlands nicht erfüllen können, bleibt
es uns nur übrig, unsere Bewaffnung zu beschleunigen und mit der
wahrscheinlichen Unvermeidlichkeit des Krieges zu rechnen. Wollen Sie
die französische Regierung davon in Kenntnis setzen und ihr gleichzeitig
unseren aufrichtigen Dank aussprechen für die mir gegenüber
im Namen der französischen Regierung erfolgte Erklärung des
französischen Botschafters, daß wir im vollen Maße auf
die Unterstützung des verbündeten Frankreichs, rechnen können.
Unter den gegenwärtigen Umständen ist diese Erklärung für
uns besonders wertvoll. Es wäre äußerst wünschenswert,
daß auch England, ohne Zeit zu verlieren, sich Frankreich und Rußland
anschließt, denn nur auf diese Weise wird es ihm gelingen, die gefährliche
Störung des europäischen Gleichgewichts abzuwenden. (Prawda
Nr. 7 vom 9. März 1919, Russisches Orangebuch Nr. 58.)
Ebenso wie er dem Verbündeten gegenüber den Sachverhalt fälschte,
um den Eintritt des Bündnisfalles auch formell herbeizuführen,
gab Sasonow dem Zaren eine falsche Darstellung der Erklärung des
deutschen Botschafters. Dies geht deutlich aus dem Telegramm des Zaren
an den Kaiser vom 29. Juli abends hervor, in dem es heißt: "Danke
für Dein versöhnliches und freundschaftliches Telegramm. Dagegen
war die heute von Deinem Botschafter meinem Minister übergebene offizielle
Mitteilung in einem ganz anderen Tone gehalten." (Deutsche Dokumente
Nr. 366.) Der Unterschied "bestand lediglich in der Auslegung Sasonows,
nicht im Wortlaut der Telegramme. Denn abgesehen davon, daß dienstliche
Telegramme naturgemäß anders stilisiert werden als persönliche
Mitteilungen regierender Herrscher, besteht kein Widerspruch zwischen
der Warnung, "daß weiteres Fortschreiten der russischen Mobilmachungsmaßnahmen
Deutschland zur Mobilmachung zwingen würde, und daß dann der
europäische Krieg kaum noch aufzuhalten sein werde", und den
Worten Kaiser Wilhelms: "Natürlich würden militärische
Maßnahmen von seiten Rußlands, die Österreich als Drohung
ansehen würde, ein Unheil beschleunigen, das wir beide
zu vermeiden wünschen, und meine Stellung als Vermittler gefährden.
..". Das Telegramm des Kaisers enthält sogar eine weitergehende
Mahnung als das des Kanzlers.
Der Zar ist anscheinend von Anfang der Krise an zum Kriege gedrängt
worden. Bereits am 29. Juli telegraphierte er dem Kaiser: "Ich sehe
voraus, daß ich sehr bald dem auf mich ausgeübten Druck erliegen
und gezwungen sein werde, äußerste Maßnahmen zu ergreifen,
die zum Kriege führen werden." (Deutsche Dokumente Nr. 332.)
Noch am gleichen Tage erlag er dem Druck und genehmigte die Gesamtmobilmachung.
Abends ging dann in Petersburg das Telegramm ein, in dem der Kaiser erklärte,
daß er den Wunsch des Zaren nach Erhaltung des Friedens teile, und
daß die deutsche Regierung ihre Bemühungen fortsetze, eine
direkte Verständigung zwischen Petersburg und Wien zu fördern
(Deutsche Dokumente Nr. 359). Die Wirkung dieses "versöhnlichen
und freundschaftlichen Telegramms" auf den Zaren ist aus den Verhandlungen
des Suchomlinowprozesses bekannt. Der Zar rief in der Nacht vom 29. zum
30. Juli sowohl den Kriegsminister wie auch den Generalstabschef telephonisch
an, und befahl, die allgemeine Mobilmachung rückgängig zu machen
und es bei der Teilmobilmachung gegen Österreich-Ungarn bewenden
zu lassen. Die beiden Generäle beschlossen, diesem Befehl nicht Folge
zu leisten. Zusammen mit Sasonow stimmten sie am folgenden Tage den Zaren
um, und die Gesamtmobilmachung nahm ihren Fortgang. Der russische Generaladjutant
Fürst Trubetzkoi erklärte am 30. Juli dem General von Chelius,
das Telegramm des Kaisers habe einen tiefen Eindruck auf den Zaren gemacht,
aber dieser könne leider nichts mehr ändern, denn die Mobilisierung
gegen Österreich sei bereits befohlen worden, und Sasonow habe wohl
den Zaren überzeugt, daß ein Zurückweichen nicht mehr
möglich sei (Deutsche Dokumente Nr. 445). Doch sagte er nichts von
einer allgemeinen Mobilmachung. Pourtales berichtete ebenfalls am 30.
Juli, "daß das Telegramm des Kaisers seine Wirkung auf den
Zaren nicht verfehlt habe, daß aber Sasonow eifrig bemüht sei,
daran zu arbeiten, daß der Zar fest bleibe". (Deutsche Dokumente
Nr. 401.) Die Gesamtmobilmachung wurde den 30. Juli über geheim gehalten.
Sasonow verhandelte mit dem deutschen Botschafter über die Vermittlung
in Wien und stellte die bekannte Formel auf, die in ihrer Anmaßung
bereits von den Entschlüssen zeugte, die jede Vermittlungstätigkeit
vereiteln sollten. Die allgemeine Mobilmachung verschwieg er.
Diese Geheimhaltung des Mobilmachungsbeschlusses ist vielleicht auf den
Rat Vivianis vom 30. Juli zurückzuführen, "bei den Vorsichts-
und Verteidigungsmaßnahmen unmittelbar keinerlei Anordnungen zu
treffen, die Deutschland einen Vorwand zu einer ganzen oder teilweisen
Mobilmachung seiner Kräfte bieten würden".
(Französisches Gelbbuch Nr. 101.) Im gleichen Sinne berichtete Iswolski
unter Nr. 210, ebenfalls am 30. Juli:
Margerie (Direktor im Ministerium des Äußern), den ich eben
gesprochen habe, sagte mir, die französische Regierung, die sich
keineswegs in unsere militärischen Vorbereitungen einmischen will,
würde in Anbetracht der fortgesetzten Verhandlungen wegen Wahrung
des Friedens es für äußerst wünschenswert halten,
daß diese Vorbereitungen einen möglichst wenig offenen und
herausfordernden Charakter tragen. Der Kriegsminister, der denselben Gedanken
entwickelte, sagte seinerseits Graf Ignatjew (dem russischen Militärattache),
wir könnten erklären, daß wir im höchsten Interesse
des Friedens bereit seien, die Mobilisationsmaßnahmen zeitweilig
zu verlangsamen, was uns nicht hindern würde, die militärischen
Vorbereitungen fortzusetzen und sie sogar zu verstärken, indem wir
uns nach Möglichkeit der Massentruppentransporte enthalten. (Prawda
Nr. 7 vom 9. März 1919.)
Dieser Freundesrat blieb aber unbeachtet. Am 31. Juli früh prangten
die Mobilmachungsanschläge an allen Straßenecken Petersburgs.
Jeder Zweifel war nunmehr ausgeschlossen, und der deutsche Botschafter
meldete die Tatsache der allgemeinen Mobilmachung nach Berlin (Deutsche
Dokumente Nr. 473). Zugleich unternahm er von sich aus Schritte, um die
Rückgängigmachung dieses verhängnisvollen Befehls zu erwirken
(Deutsche Dokumente Nr. 535, 539). Diese Schritte hatten keinen Erfolg.
Die russische Regierung suchte auch jetzt noch die Tatsache der Gesamtmobilmachung
im Ausland geheim zu halten, vermutlich, um die deutschen Gegenmaßnahmen
als eine Herausforderung hinstellen zu können, wie dies in Frankreich
mit Erfolg geschehen ist. Asquith erklärte am 31. Juli im Unterhaus:
"Wir haben soeben, nicht aus Petersburg, sondern aus Deutschland
erfahren, daß Rußland eine allgemeine Mobilmachung seines
Heeres und seiner Flotte verkündet hat." (Deutsche Dokumente
Nr. 576; vgl. auch Nr. 518). Sogar der russische Botschafter in Berlin
war ohne Nachricht (Belgisches Graubuch, II, Nr. 20). Nur in Paris wußte
man Bescheid. Abends um 7 Uhr erklärte zwar die französische
Regierung, noch keine Kenntnis der Mobilmachung zu haben (Deutsche Dokumente
Nr. 528, Französisches Gelbbuch Nr. 117). Aber diese Angabe war erlogen.
Denn Iswolski hat am 31. Juli berichtet, am Morgen sei ein Telegramm von
Paleologue eingetroffen, "das die volle Mobilisation der russischen
Armee ohne jede Ausnahme bestätigt". (Prawda Nr. 7, vom 9. März
1919.)
Von den zahlreich einlaufenden Mobilmachungsmeldungen der Botschaft und
der Konsulate in Rußland abgesehen, war die deutsche Regierung auf
die russische Gesamtmobilmachung nicht vorbereitet. Der Kaiser äußerte
am 1. August zum österreichischungarischen Legationsrat Graf Larisch,
"daß die Tatsache der allgemeinen Mobilmachung Rußlands
ihn vollkommen überrascht hätte", (österreichisches
Rotbuch 1919, III, Nr. 84.) Sasonow hat niemals
von dieser Möglichkeit gesprochen. Russischerseits war vielmehr wiederholt
versichert worden, daß eine Mobilmachung gegen Deutschland nicht
in Frage komme. Dieser Umstand ist wesentlich zur Beurteilung der russischen
Absichten, und zweifellos wird man damals in Berlin gerade aus der Unaufrichtigkeit
dieser Erklärungen den Kriegswillen Rußlands gefolgert haben.
Während die Teilmobilisation russischerseits nach Berlin mitgeteilt
und dort begründet bzw. entschuldigt wurde, erfolgte keinerlei Erklärung
über die allgemeine Mobilmachung. Es wurde der deutschen Regierung
überlassen, ihre eigenen - freilich sehr naheliegenden - Schlüsse
zu ziehen. Die russische Regierung hat diesen Schritt niemals angekündigt
und, selbst als er aller Welt bekannt war, mit keinem Worte Deutschland
gegenüber erläutert.
Für Rußland und seine Verbündeten ist es immer eine Ursache
größter Verlegenheit gewesen, daß sich die russische
Gesamtmobilmachung in keiner Weise vor den Augen der Welt rechtfertigen
ließ. Die österreichisch-ungarische Gesamtmobilmachung erfolgte
später als die russische. Der Hinweis auf bedrohliche deutsche Maßnahmen,
die vorangegangen wären (Deutsche Dokumente Nr. 459, 462, Englisches
Blaubuch Nr. 113, Französisches Gelbbuch Nr. 118), war von vornherein
unglaubwürdig und konnte nicht aufrecht erhalten werden. Schon während
des Weltkrieges hat die Anklagepropaganda des Feindbundes immer daran
gekrankt, daß die Gesamtmobilmachung Rußlands den Ausbruch
des Krieges verschuldet hat, und daß diese Maßnahme lediglich
vom Willen zum Kriege diktiert war. Da keinerlei Rechtfertigung gelingen
wollte, hat man auf seiten des Feindbundes versucht, den Petersburger
Entschluß zur allgemeinen Mobilmachung auf ein Extrablatt zurückzuführen,
das am 30. Juli mittags vom Berliner Lokal-Anzeiger herausgegeben wurde
und die bekannte Falschmeldung von der Mobilisierung des Heeres und der
Flotte Deutschlands enthielt. Viscount Grey of Fallodon (Sir E. Grey)
hat am 23. Oktober 1916 in einer Ansprache an fremde Pressevertreter erklärt:
"Rußland hat die Mobilmachung, über die sich Deutschland
beschwerte, erst verfügt, ... als in Deutschland eine Meldung über
die deutsche Mobilmachung verbreitet und nach Petersburg telegraphiert
worden war". Damit hat er den Eindruck hervorrufen wollen, daß
ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Falschmeldung des Lokal-Anzeigers
und dem russischen Mobilmachungsbefehl bestanden hätte. Nun läßt
sich aber nachweisen, daß das durch die Falschmeldung veranlaßte
Telegramm des russischen Botschafters (Russisches Orangebuch Nr. 61) erst
in Petersburg eingetroffen sein kann, nachdem der Zar den einmal widerrufenen
Befehl zur allgemeinen Mobilmachung bereits endgültig bestätigt
hatte, also einen vollen Tag nach dem tatsächlichen Beginn dieser
Mobilmachung.
Der vom russischen Botschafter abgesandte Widerruf seiner ersten Meldung
(Russisches Orangebuch Nr. 62, ebenso wie ein noch zeitiger abgegangenes
Telegramm in offener Sprache) ist zudem höchst wahrscheinlich früher
in Petersburg eingetroffen, als seine Falschmeldung*). Russischerseits
hat man sich auch niemals auf dieses Extrablatt berufen. Sasonow ist nicht
darauf zu sprechen gekommen, obwohl er noch dreimal mit dem
deutschen Botschafter zusammenkam. Der Zar hat es weder Pourtales gegenüber
noch in seinem Telegramm an den König von England vom 1. August erwähnt,
obwohl auch er sicherlich gerne einen Grund angegeben hätte, der
seinen verhängnisvollen Schritt rechtfertigen könnte. Überdies
läßt sich der Nachweis führen, daß Grey seine Anschuldigung
wider besseres Wissen erhoben hat. Es ist für diesen Staatsmann bezeichnend,
daß seine Erklärung zwar dem Buchstaben nach richtig war (wenn
man sie auf die endgültige Genehmigung der Mobilmachung, nicht auf
ihren tatsächlichen Beginn bezieht), die von ihm erweckte Vorstellung
aber bewußt falsch.
Einzelne unserer Gegner haben versucht, Deutschland eine "heimliche
Mobilmachung" nach russischem Muster anzudichten. Selbst die Schuldkommission
der Pariser Friedenskonferenz hat sich diese ganz unhaltbare Behauptung
zu eigen gemacht. Von Verschwörungen und eigenmächtigen Handlungen
militärischer Stellen ist auch in anderen Darstellungen die Rede.
Sie setzen eine völlige Unkenntnis deutscher Verhältnisse und
der technischen Seite der Frage voraus. Die Mobilmachung des deutschen
Heeres beruhte auf den Bestimmungen des Mobilmachungsplanes und vollzog
sich auf Grund der eingehenden, auf ihn gestützten Vorarbeiten aller
militärischen und der in Betracht kommenden zivilen Stellen. Der
Befehl zur Mobilmachung mußte durch den Kaiser selbst erfolgen.
Der Kriegsminister hatte den Befehl weiterzugeben und war für seine
Durchführung verantwortlich. Die Behauptung, daß in Deutschland
eine "heimliche" Mobilmachung ohne Wissen des Kaisers und der
verantwortlichen politischen Stellen stattgefunden habe, bedarf keiner
weiteren Widerlegung. Aber auch die Vorstellung, daß die berufenen
Stellen schon vor der amtlichen Bekanntgabe heimlich mit der Mobilmachung
begonnen hätten, ist sinnlos und unbegründet. Bei der Stärke
eines modernen Heeres, das auf der allgemeinen Wehrpflicht aufgebaut ist,
muß die Mobilmachung auf breitester Grundlage erfolgen. Für
Deutschland kam, infolge seiner geographischen Lage mit wenigstens zwei
bedrohten Fronten, die Notwendigkeit hinzu, von vornherein die Kräfte
des Landes in weitgehendem Maße in Anspruch zu nehmen. Die Wir-
*) Siehe die ausführlichen Darlegungen von Montgelas im Berliner
Tageblatt vom 7. und 15. Juli 1921.
kung einer solchen Mobilmachung auf das gesamte Wirtschaftsleben des Staates
ist naturgemäß so einschneidend und lähmend, daß
sich ihr tatsächlicher Beginn nicht in Heimlichkeit vollziehen kann,
selbst wenn die Nachrichtenübermittlung in das Ausland gleichzeitig
weitgehend unterbunden würde. Denn diese letztere Maßnahme
müßte Aufsehen erregen und durch sich selbst verraten, was
sie verbergen wollte.
Ein glatter, schneller Verlauf der Mobilmachung gewährt einen Vorsprung
über den Gegner und damit die Möglichkeit, die Feindseligkeiten
früher zu eröffnen, Das kann für den ganzen späteren
Verlauf des Krieges von einschneidender Bedeutung sein. Dieses glatte
Abspielen der Mobilmachung muß somit durch eingehende Maßnahmen
bis ins kleinste vorbereitet sein. Geordnete Verwaltungsverhältnisse
und gesunder Staatsorganismus erleichtern sie. Je besser und reibungsloser
der Gang der Maschine gewährleistet ist, desto länger kann der
Beginn der Mobilmachung ohne Nachteil hinausgeschoben werden gegenüber
Gegnern, die auf Grund innerer Verhältnisse ihre Vorbereitungen lückenhafter
getroffen haben oder für die Durchführung der Mobilmachung mehr
Zeit gebrauchen und mehr Reibungen zu überwinden haben.
Es gibt im Laufe des militärischen Ausbildungsjahres Zeiten, die
eine Mobilmachung erschweren, z. B. die Zeit der Rekrutenausbildung, die
Übungen größerer Verbände auf Truppen-Übungsplätzen,
die Abwesenheit der Truppen aus ihren Standorten anläßlich
der Herbstübungen. Dementsprechend gibt es eine Reihe von Maßnahmen,
die bezwecken, den für die Mobilmachung günstigen Normalzustand
herbeizuführen: die Rückberufung der Urlauber, das Abbrechen
von Übungen außerhalb der Garnisonen, die Rückkehr der
Truppen in ihre Standorte. Diese Maßnahmen bedeuten aber noch keine
Mobilmachung. Ferner kann der Verlauf der Mobilmachung durch feindliche
Einwirkungen gestört oder verlangsamt werden, z. B. durch plötzlichen
Überfall, durch Zerstörung von Eisenbahnkunstbauten u. a. m.
Diesen Störungen durch Bewachung wichtiger Bahnbauten usw. und durch
verstärkte Grenzüberwachung vorzubeugen, ist von Wichtigkeit.
Aber auch diese Maßnahmen sind lediglich vorbeugender Art.
Selbst die Anwendung der im vorstehenden geschilderten Maßnahmen
muß vorher organisiert werden. Das hat in Deutschland dazu geführt,
für den Fall starker politischer Spannung den Eintritt der "Drohenden
Kriegsgefahr" vorzusehen. Wenn also politische Gründe für
die Möglichkeit eines baldigen Kriegsausbruches sprachen, bedurfte
es nur des Befehls "Drohende Kriegsgefahr", um das Inkrafttreten
der oben angedeuteten Maßnahmen zu veranlassen. Andere Länder
hatten entsprechende Einrichtungen.
Bei dem hohen Stande der deutschen Mobilmachungsvorbereitungen konnte
die Ausführung der geplanten Maßnahmen ohne Bedenken hinausgeschoben
werden, bis die Absicht der Gegner einwandfrei festgestellt war. Dies
ist 1914 geschehen. Aus der im Anhang beigefügten Mobilmachungstabelle
geht hervor, daß Deutschland die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen
und die Mobilmachung selbst wesentlich später als seine Nachbarn
angeordnet hat.
Durch die allgemeine Mobilmachung in Rußland wurde die deutsche
Regierung vor eine schwere Entscheidung gestellt. Nicht nur Rußland
hatte mobilisiert, auch in Frankreich waren die Kriegsvorbereitungen weit
vorgeschritten. Deutschland hatte seinerseits lediglich Maßnahmen
vorbeugender Art getroffen. Es waren (am
29. Juli) die Truppen von den Übungsplätzen in ihre Garnisonen
zurückbeordert und die Urlauber zurückberufen worden. Am
30. Juli wurde mit der Aufstellung des Grenzschutzes begonnen. Keinerlei
Mobilmachungsbefehl war ergangen. Nunmehr wurde, am 31. Juli mittags,
"Drohende Kriegsgefahr" verkündet und Rußland in
einem mit zwölf Stunden befristeten Ultimatum aufgefordert, seine
Kriegsmaßnahmen einzustellen (Deutsche Dokumente Nr. 490). Es erschien
notwendig, von der russischen Regierung hierbei auch die Einstellung der
gegen Österreich-Ungarn getroffenen Maßnahmen zu verlangen,
um der Antwort vorzubeugen, die Mobilmachung sei lediglich gegen Österreich
gerichtet (Jagow zu Goschen, Englisches Blaubuch Nr. 121). Da aus Petersburg
keinerlei Antwort einging, wurde der deutsche Botschafter am 1. August
angewiesen, den Krieg zu erklären (Deutsche Dokumente Nr. 542). Diesen
Auftrag führte er am 1. August, 7 Uhr abends, aus (Deutsche Dokumente
Nr. 588, Russisches Orangebuch Nr. 76).
Es hat niemals irgendein Zweifel darüber bestehen können, daß
die Gesamtmobilmachung der russischen Armee den Krieg mit Deutschland
bedeuten würde. Auch im Lager unserer Gegner urteilte man nicht anders.
Die Schöpfer der französisch-russischen Militärkonvention
waren sich von Anfang an klar darüber, daß "auf die Mobilmachung
in Frankreich und in Rußland sofort entscheidende Taten, kriegerische
Handlungen folgen müßten, die Mobilmachung sei mit einem Worte
untrennbar von einem Angriff". (L'Alliance franco-russe Nr. 42, Anlage.)
Nach dem französischen Gelbbuch über die französisch-russische
Allianz (Nr. 71) erklärte der französische General Boisdeffre
am 18. August 1892 bei den Verhandlungen über die Militärkonvention
dem Zaren Alexander III., daß die Mobilmachung der Kriegserklärung
gleichkomme. Mobilisieren heiße, seinen Gegner zwingen, das gleiche
zu tun. Die Mobilmachung habe die Ausführung der strategischen Transporte
und der Truppenzusammenziehungen zur Folge. Eine Million Mann an seiner Grenze mobilisieren
lassen, ohne gleichzeitig dasselbe zu tun, hieße sich jeder Möglichkeit
der Sicherung begeben. Es hieße sich in die Lage eines Menschen
zu versetzen, der mit einer Pistole in der Tasche sich die seines Nachbarn
an die Stirn drücken ließe, ohne die seine hervorzuziehen.
Der Zar Alexander pflichtete dieser Auffassung bei. Im Artikel 2 der französisch-russischen
Militärkonvention von 1892 verpflichten sich die Verbündeten:
sofort) gleichzeitig und vollständig zu mobilisieren, sobald der
Dreibund oder eines seiner Mitglieder mobilmache, und alsbald an den Grenzen
aufzumarschieren. Im Artikel 3 wird dann die Stärke der Truppen bestimmt,
die beiderseits gegen Deutschland (sic!) aufzubieten sind. Anschließend
heißt es dann: "Die Streitkräfte sind ungesäumt zu
entscheidendem Kampfe einzusetzen (ces forces s'engageront a fond,
en toute diligeance), so daß Deutschland (sic!) gezwungen wird,
zugleich im Osten und Westen zu kämpfen". (3. Französisches
Gelbbuch, L'Alliance franco-russe, Nr. 71.) Hier ist wiederum gesagt,
ja sogar vertraglich festgelegt: Mobilmachung ist Krieg. Die russische
oder die französische Mobilmachung hatte für Deutschland den
sofortigen Krieg auf zwei Fronten gleichzeitig zur Folge.
Der Aufmarsch der zahlenmäßig weit überlegenen russischen
Streitkräfte bedeutete eine Bedrohung, welche die deutsche Regierung
niemals und unter keinen Umständen untätig mit ansehen konnte.
Es mußten in solchem Falle unbedingt Gegenmaßregeln getroffen
werden, und diese Gegenmaßregeln konnten nur in einem kriegerischen
Vorgehen bestehen. Denn, wie der ganzen Welt bekannt war, lag die Überlegenheit
der deutschen Armee in ihrer größeren Beweglichkeit. Die Sicherheit
des Reiches beruhte auf der schnellen Mobilmachung. Die Aussicht der deutschen
Truppen, den Millionenheeren des Zaren erfolgreich zu begegnen, begründete
sich mit der Möglichkeit, sie nach rascher vollzogenem Aufmarsch
zu schlagen, ehe sie vollständig zusammengezogen waren. Dies wußte
alle Welt.
Rußland war es bekannt. Um Deutschland gegenüber einen möglichst
großen Vorsprung zu gewinnen, wurde die Tatsache der Mobilmachung
zunächst ängstlich geheim gehalten. Die diplomatischen Verhandlungen
scheinen zum sehr großen Teil den Zweck verfolgt zu haben, die militärischen
Vorbereitungen Rußlands zu verschleiern. Dementsprechend heißt
es in dem "Protokoll einer besonderen Beratung über die vorbereitenden
Kriegsarbeiten bezüglich Organisation des rückwärtigen
Dienstes an der Südwestfront gemäß Plan A", Petersburg,
den 8. November 1912:
Es ist unbedingt erforderlich, daß die Anordnung, die Verkündung
der Mobilmachung sei auch die Verkündung des Krieges, geändert
wird. Eine
solche Anordnung kann zu schweren Mißverständnissen in den
Beziehungen zu denjenigen Mächten führen, mit denen auf Grund
dieser oder jener politischen Umstände Krieg oder die Eröffnung
der Feindseligkeiten wenigstens nicht gleich von Anfang an, beabsichtigt
ist.
Andererseits kann es sich als vorteilhaft erweisen, den Aufmarsch zu vollziehen,
ohne die Feindseligkeiten zu beginnen, damit dem Gegner nicht unwiederbringlich
die Hoffnung genommen wird, der Krieg könne noch vermieden werden.
Unsere Maßnahmen müssen hierbei durch diplomatische Scheinverhandlungen
maskiert werden, um die Befürchtungen des Gegners möglichst
einzuschläfern.
Wenn solche Maßnahmen die Möglichkeit geben, einige Tage zu
gewinnen, so müssen sie unbedingt ergriffen werden. ("Rußlands
Mobilmachung für den Weltkrieg", Anlage 5.)
In seinen Erinnerungen (S. 260) gibt Paleologue den dramatischen, aber
höchstwahrscheinlich apokryphen Wortlaut des Gespräches zwischen
dem Zaren und Sasonow wieder, das am Nachmittag des 30. Juli der endgültigen
Genehmigung der allgemeinen Mobilmachung vorangegangen ist. Beide Teilnehmer
sind sich vollkommen klar darüber, daß dieser Schritt den Krieg
bedeutet.
In Frankreich haben sich Politiker und Militärschriftsteller seit
Begründung des Zweibundes mit jener Frage beschäftigt, und Milliarden
französischen Geldes sind allein zu dem Zwecke verausgabt worden,
die russische Mobilmachung zu beschleunigen.
In England war man sich über diese Lage der Dinge nicht weniger im
klaren. Der englische Botschafter hat, wie bereits erwähnt, am 25.
Juli Sasonow die ernste Hoffnung ausgesprochen, Rußland werde nicht
durch Mobilisierung den Krieg beschleunigen. Er warnte ihn, wie das englische
Blaubuch (Nr. 17) angibt, daß, wenn Rußland mobilisiere, Deutschland
nicht mit bloßer Mobilisierung zufrieden sein, noch Rußland
Zeit lassen werde, die seinige auszuführen, sondern wahrscheinlich
sogleich den Krieg erklären werde.
Die deutsche Regierung hat über ihre Haltung im Falle einer russischen
Mobilmachung von Anfang an keinen Zweifel gelassen und frühzeitig
darauf hingewiesen, daß eine derartige Bedrohung der Sicherheit
des Reiches nicht nur allen Verhandlungen ein Ende bereiten, sondern auch
unabwendbar zum Kriege führen müsse. Auf die ersten sicheren
Nachrichten von russischen Kriegsvorbereitungen an der deutschen Grenze
hin hat der Reichskanzler den Botschaftern in Petersburg, Paris und London
am 26. Juli jene inhaltlich gleichlautenden Telegramme gesandt (Deutsche
Dokumente Nr. 198, 199, 200), in denen er auf die ernsten Folgen hinwies,
die ein derartiges Vorgehen haben müsse. Frankreich und England wurden
gebeten, einen beruhigenden Einfluß auf Rußland auszuüben.
In einem weiteren Telegramm nach Petersburg vom gleichen Tage heißt
es wörtlich: "Die Mobilisierung aber bedeutet den Krieg."
(Deutsche Dokumente Nr. 219.)
Der französische Botschafter hat bereits am 29. Juli nach Paris berichtet,
der russische Generalstab nehme an, daß der deutsche Mobilmachungsbefehl
am 30. Juli ergehen werde. (Bericht an den französischen Senat -
704/1919 - S. 43, Anm.) Man erwartete ihn offenbar als sofortige Antwort
auf die russische Teilmobilmachung. Er ist jedoch erst zwei Tage später
erfolgt, am Tage nach dem Bekanntwerden der russischen Gesamtmobilmachung.
Als am 31. Juli die Meldung des deutschen Botschafters einlief, daß
in Rußland die allgemeine Mobilmachung angeordnet sei, hat Deutschland
weder sofort seinerseits mobilisiert, noch sogleich den Krieg erklärt.
Die deutsche Regierung sah sich aber genötigt, "Drohende Kriegsgefahr"
zu verkünden und in Form eines Ultimatums Einstellung der militärischen
Maßnahmen zu verlangen. Die russische Regierung ließ diese
Aufforderung unbeantwortet. Sasonow erklärte dem deutschen Botschafter,
die Mobilmachung könne nicht mehr aufgehalten werden (Deutsche Dokumente
Nr. 536). Das gleiche sagte der Zar in seinem Telegramm vom 31. Juli (Deutsche
Dokumente Nr. 487)*). Am 1. August gab er die Notwendigkeit der deutschen
Mobilmachung zu. Noch ehe diese befohlen worden war, telegraphierte der
Zar an Kaiser Wilhelm: "Ich verstehe, daß Du gezwungen bist, mobil
zu machen." (Deutsche Dokumente Nr. 546.) Er fand aber nicht die
Kraft, sich gegen den Willen seiner Ratgeber aufzulehnen, um das Verhängnis
aufzuhalten. Auch ein letzter Versuch des deutschen Botschafters, den
Zaren zur Abwendung des Krieges zu bewegen, blieb vergebens (Deutsche
Dokumente Nr. 535).
An Rußlands Willen, den Weltkrieg herbeizuführen, konnte mit
dem Augenblick kein Zweifel mehr bestehen, wo die Petersburger Regierung
sich zur allgemeinen Mobilmachung entschloß. Diese Absicht bestätigt
auch das vorerwähnte Telegramm Sasonows nach London vom 2. August
1914, in dem er seinen Schritt zu rechtfertigen suchte. Er telegraphierte:
Deutschland ist offen bemüht, die Verantwortung für den Bruch
auf uns zu schieben. Unsere allgemeine Mobilmachung ist durch die riesige
Verantwortung hervorgerufen, die auf uns fallen würde, wenn wir nicht
alle Vorsichtsmaßregeln treffen würden, während Österreich
sich auf Verhand- -lungen, die den Charakter des Aufschubs trugen, beschränkend,
Belgrad bombardiert. Der Zar verpflichtete sich durch das Wort vor dem
deutschen
*) "Die militärische Begründung, die Zurücknahme einer
Mobilmachung sei technisch unmöglich, ist zwar nicht wörtlich
dahin zu verstehen, daß ein solcher Gegenbefehl überhaupt nicht
durchführbar sei, aber die Unterbrechung oder Einstellung einer Massenmobilmachung
ruft derartige Störungen in den militärischen Vorbereitungen
und im Verkehrswesen hervor, daß der betreffende Staat für
längere Zeit in einen Zustand operativer Unterlegenheit gerät,
den während politischer Krisen kein Staatsmann wird verantworten
können." Montgelas, Glossen, S. 29.
Kaiser, daß er keine herausfordernden Handlungen unternehmen werde,
solange die Verhandlungen mit Österreich fortgesetzt werden. Nach
einer solchen Bürgschaft und nach allen Friedensbeweisen Rußlands
hatte Deutschland gar kein Recht und konnte nicht unsere Behauptung bezweifeln,
daß wir mit Freude jede friedliche Lösung, die mit der Würde
und der Unabhängigkeit Serbiens vereinbar ist, annehmen würden.
Ein anderer Ausweg wäre mit unserer eigenen Würde gänzlich
unvereinbar und würde natürlich das europäische Gleichgewicht
durch Befestigung der Hegemonie Deutschlands erschüttern. Dieser
europäische und Weltcharakter des Konfliktes ist unendlich wichtiger
als der Anlaß, der ihn geschaffen hat. (Prawda Nr. 7 vom 9. März
1919, Russisches Orangebuch Nr. 78).
Weil Rußland in erster Linie die Prestigefrage im Auge hatte, wollte
es nicht die Tage und Stunden warten, die eine diplomatische Lösung
des Konfliktes ermöglicht hätten.
Das vom Zaren in seinem Telegramm vom 31. Juli (Deutsche Dokumente Nr.
487) gegebene Ehrenwort, die russischen Truppen würden keine herausfordernde
Aktion unternehmen, solange die Verhandlungen mit Österreich-Ungarn
andauerten, konnte den bedrohlichen Charakter der russischen Mobilmachung
in keiner Weise verringern. Denn es hätte ja ganz in Rußlands
Hand gelegen, diese Verhandlungen zum Scheitern zu bringen, sobald seine
gewaltigen Heere fertig aufmarschiert waren, um dann mit erdrückender
Übermacht in Deutschland einzufallen. Bethmann Hollweg telegraphierte
am 31. Juli nach London:
Eine russische mobilisierte Armee an unserer Grenze, ohne daß wir
mobilisiert haben, ist auch ohne "provocative action" eine Lebensgefahr
für uns. Die Provokation, deren sich Rußland dadurch schuldig
gemacht hat, daß es in einem Augenblick gegen uns mobilisiert hat,
wo wir auf seine Bitten in Wien vermittelten, ist überdies so stark,
daß kein Deutscher es verstehen würde, wenn wir dagegen nicht
mit scharfen Maßregeln antworteten. (Deutsche Dokumente Nr. 529.)
Am 2. August telegraphierte er:
Widerspruch zwischen den nicht anzuzweifelnden Erklärungen des Zaren
und Handlungen seiner Regierung im ganzen Verlauf der Krisis so offenkundig,
und Haltung der Regierung trotz entgegenstehender Versicherungen faktisch
so unfreundlich, daß wir uns trotz Versicherung Zaren durch Gesamtmobilmachung
schwer provoziert fühlen mußten. (Deutsche Dokumente Nr. 696.)
Die gegen Österreich-Ungarn gerichtete Mobilmachung bedeutete bereits
für unseren Verbündeten eine sehr ernste Gefahr. Bei einer solchen
teilweisen Mobilmachung hätte Rußland aber mit dem Angriff
zögern müssen, solange es nicht gegen Deutschland gerüstet
war, da es wußte, daß Deutschland in diesem Falle mobilisieren
und seinem Bundesgenossen zu Hilfe kommen würde. Eine derartige Rückversicherung
bestand für das Reich nicht, sowie die russische Mobilmachung allgemein
war. Deshalb sind auch alle Vergleiche mit der russischen und österreichisch-ungarischen Mobilisation im Jahre 1912 hinfällig*). Keine Großmacht
stand bereit, für Deutschland ins Feld zu ziehen, wenn die russischen
Heere sich in Marsch setzten, während im Gegenteil andere Mächte
auf diesen Augenblick warteten, um ebenfalls über uns herzufallen.
Deshalb konnte das Versprechen des Zaren Deutschland keine Sicherheit
bieten. Es bedurfte auch nicht erst der Enthüllungen des Suchomlinowprozesses,
um zu zeigen, wie wenig damals das Wort des Zaren in Rußland galt.
Denn, obwohl Kaiser Wilhelm am 1. August in seinem letzten Telegramm an
den Zaren (Deutsche Dokumente Nr. 600) diesen dringend bat, seine Truppen
anzuweisen, auf keinen Fall die deutsche Grenze zu verletzen, fielen noch
am selben Tage russische Abteilungen in deutsches Gebiet ein. (Deutsche
Dokumente Nr. 629, 662, 664, Untersuchungsausschuß, Heft 2, S. 16,
Anm.)
Im übrigen mag das Wort regierender Herrscher in jenen Tagen in Berlin
niedrig im Kurse gestanden haben, nachdem sich die Zusage des Königs
von England an Prinz Heinrich, England werde sich in einem europäischen
Konflikt neutral verhalten (Deutsche Dokumente Nr. 207, 374), als gänzlich
wertlos erwiesen hatte. Kaiser Wilhelm zum mindesten scheint das Wort
König Georgs ernst genommen zu haben (Deutsche Dokumente Nr. 474;
siehe auch seine Aufzeichnung für den amerikanischen Botschafter
vom 10. August 1914).
Rußlands allgemeine Mobilmachung bedeutete den Krieg, und zwar den
Weltkrieg, denn an dem Eingreifen Frankreichs bestand kein Zweifel. Auch
über die Haltung Englands war man sich in Berlin offenbar im klaren,
trotz der zuletzt widerspruchsvollen Berichterstattung Lichnowskys. Von
den Versuchen abgesehen, den Krieg auf Rußland zu beschränken,
sind daher alle politischen Handlungen vom 31. Juli mittags an als Kriegsmaßnahmen
anzusprechen, bzw. als Versuche, die bestmöglichen Vorbedingungen
für den bevorstehenden Kampf zu schaffen. Unter der Wirkung der ungeheuren
Erregung und der beginnenden Kriegspsychose
*) Auch Montgelas (Glossen, S. 24) erklärt jeden Vergleich zwischen
den Mobilmachungen, die 1912/13 in Österreich-Ungarn und Rußland
stattfanden, und denen des Jahres 1914 für unzulässig. "Im
ersteren Falle handelt es sich um Maßnahmen, die auf Grund von Sonderbefehlen
allmählich die Präsenzstärke bei einer Anzahl von Truppenteilen
erhöhten, von einem Aufmarsch, das ist die Versammlung außerhalb
der Friedensgarnisonen an den bedrohten Grenzen, jedoch absahen... Im Jahre 1914 aber werden die für
bestimmte Kriegsfälle vorgesehenen Mobilmachungsbefehle erlassen,
auf Grund deren nach lange festgelegtem, sorgfältig vorbereitetem
Plane nicht nur die Ergänzung der Truppen auf Kriegsstärke,
sondern auch die Beschaffung des gesamten Kriegsgeräts und in unmittelbarem
Anschluß daran, teilweise schon gleichzeitig damit, der Aufmarsch
durchgeführt werden, die kriegerischen Operationen beginnen sollten".
ist dann manches geschehen, das befremden muß und sicherlich besser
unterblieben wäre.
Die Auseinandersetzung mit Frankreich und der Versuch, England wenigstens
vorläufig neutral zu erhalten, werden weiter unten zu behandeln sein.
Die nächsten Aufgaben der politischen Leitung waren, sich mit den
Verbündeten zu verständigen, wenn möglich, neue Bundesgenossen
zu werben und neutrale Staaten zu einer wohlwollenden Haltung zu bewegen.
Die weitere Aufgabe, Deutschlands Recht auf Selbstverteidigung der öffentlichen
Meinung der Welt gegenüber zu vertreten und den Charakter des Krieges
als Defensivkrieg vor der Geschichte zu dokumentieren, ist nicht genügend
berücksichtigt und jedenfalls nicht mit Erfolg gelöst worden.
Es scheint zunächst eine gewisse Besorgnis geherrscht zu haben, ob
Österreich-Ungarn auch sofort seine Hauptkräfte gegen Rußland
einsetzen und den Aufmarsch gegen Serbien abbrechen werde (Deutsche Dokumente
Nr. 503, 627). Bereits am 29. Juli war in Berlin eine Verbalnote übergeben
worden, in der es heißt: "Der Chef des k. u. k. Generalstabs hält
es nun für unbedingt geboten, ohne Verzug Klarheit darüber zu
gewinnen, ob wir mit starken Kräften gegen Serbien marschieren können
oder unsere Hauptmacht gegen Rußland zu verwenden haben werden."
(Deutsche Dokumente Nr. 352.) In Berlin hoffte man aber bis zuletzt auf
einen günstigen Ausgang der Vermittlungsaktion und ging auf die Frage
des Generals von Conrad nicht ein. Hieraus entstand bei Kriegsausbruch
ein gewisses Dilemma. Auch ist die späte Kriegserklärung Österreich-Ungarns
an Rußland (5. August, Deutsche Dokumente Nr. 878, 879) auf den
Wunsch zurückzuführen, die nunmehr recht verwickelte Mobilmachung
ungestört durchführen zu können (Deutsche Dokumente Nr.
772). Russischerseits herrschte übrigens das gleiche Bestreben (Deutsche
Dokumente Nr. 704).
Obwohl die Haltung Italiens nicht zweifelhaft sein konnte, wurde von Berlin
aus der Appell an die Bundestreue immer wieder erneuert (Deutsche Dokumente
Nr. 492, 628, 694). Auch wurde der Flügeladjutant von Kleist entsandt,
um insbesondere auf den König einzuwirken (Deutsche Dokumente Nr.
745, 771, 850). Ob Italien überhaupt in der Lage gewesen wäre,
seinen Vertragspflichten nachzukommen, erscheint zweifelhaft. Sicher ist,
daß das hartnäckige Festhalten des Wiener Kabinetts an seiner
verfehlten Auslegung des Art. VII des Dreibundvertrages jede Möglichkeit
ausschloß. Die italienische Regierung hat bereits frühzeitig
darauf hingewiesen, daß ihre Auffassung darüber, ob der Bündnisfall
gegeben sei oder nicht, von der Frage der Kompensationen abhängig
sein werde (Deutsche Dokumente Nr. 150). Österreich-Ungarns Hartnäckigkeit und seine Abneigung gegen den erpresserischen
Verbündeten ließ alle deutschen Bemühungen scheitern.
Auch darüber bestand kein Zweifel, daß Rumänien seinen
Bündnisverpflichtungen nicht nachkommen werde. Trotzdem wurde alles
versucht, die rumänische Regierung zum Eingreifen zu veranlassen.
Um ihr dies zu ermöglichen, wurde Bulgarien zu bindenden Erklärungen
über seine Haltung gedrängt (Deutsche Dokumente Nr. 544, 549,
729). Man verstieg sich auch zu einem Angebot Bessarabiens als Belohnung
für erfüllte Bundespflicht (Deutsche Dokumente Nr. 506, 830).
In Anbetracht der intimen Beziehungen zwischen Rom und Bukarest war aber
nicht daran zu denken, daß Rumänien eine andere Haltung einnehmen
werde als Italien (Deutsche Dokumente Nr. 868).
Die noch schwebenden Verhandlungen über ein Bündnis mit der
Türkei wurden sofort zum Abschluß gebracht (Deutsche Dokumente
Nr. 508, 547, 726). Auch der Vertragsschluß mit Bulgarien wurde
beschleunigt (Deutsche Dokumente Nr. 673, 697).
Von Dänemark wurde nichts anderes als eine neutrale Haltung erwartet
(Deutsche Dokumente Nr. 494), ebenso von Holland (Deutsche Dokumente Nr.
674) und der Schweiz (Deutsche Dokumente Nr. 500). Dagegen scheint man
mit der Möglichkeit gerechnet zu haben, daß Schweden in den
Krieg eingreifen könnte (Deutsche Dokumente Nr. 123, 319, 406, 520).
In der Mitteilung nach Stockholm, daß Finnland von russischen Truppen
entblößt sei (Deutsche Dokumente Nr. 552), liegt die Aufforderung
versteckt, sich dieser ehemals schwedischen Provinz zu bemächtigen.
Es bedarf keiner Ausführung, wie aussichtslos ein derartiges Vorgehen
war. Kooperation im Kriegsfalle ist nur nach gründlichen politischen
und militärischen Vorbereitungen denkbar. An solchen Vorbereitungen
für den Weltkrieg hat es jedoch deutscherseits ganz gefehlt.
Die Aussichtslosigkeit allein hielt aber die Berliner Regierung nicht
vom Versuch ab; hat sie doch sogar Japan aufgefordert, "in richtiger
Würdigung des großen Momentes die gegebenen Konsequenzen zu
ziehen" (Deutsche Dokumente Nr. 545). In Wien wollte man bereits
am 23. Juli (!) Tokio "auf die sich bietende günstige Gelegenheit"
aufmerksam machen (österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 70).
Die Festsetzung des Termins für die Mobilmachung muß als rein
militärische Frage angesehen werden. Ursprünglich wurde anscheinend
der 2. August für den Beginn der Mobilmachung in Aussicht genommen
(Deutsche Dokumente Nr. 479). Weshalb dieser Beschluß geändert
worden ist, geht aus den Deutschen Dokumenten nicht hervor.
Daß nach der Kriegserklärung der Generalstab ausgiebig zu Worte
kam, ist nur natürlich. Die Vorschläge, die er anbrachte, sind
aber zum Teil sehr befremdlich. Der Gedanke, Indien, Ägypten, Südafrika,
Polen und den Kaukasus zu revolutionieren, mutet an wie ein schlechter
Roman (Deutsche Dokumente Nr. 662, 751, 876). Die Dokumente geben nur
einige Beispiele des sinnlosen Vorgehens militärischer Stellen, wie
die Absicht der "Verhaftung verschiedener hoher luxemburgischer Beamter"
(Deutsche Dokumente Nr. 684) und des geplanten Vorgehens des Oberkommandos
in den Marken gegen die französische Botschaft (Deutsche Dokumente
Nr. 721). Man kann nur sagen: "Wehe, wenn sie losgelassen!"
Andererseits ist diese Planlosigkeit und das Fehlen eines engen Zusammenhanges
zwischen politischer und militärischer Leitung ein weiterer Beweis
dafür, daß der Krieg nicht von langer Hand vorbereitet, also
auch nicht gewollt war.
Daß die Verletzung der luxemburgischen und belgischen Neutralität
nur aus militärischen Gründen erfolgte, geht aus den Deutschen
Dokumenten einwandfrei hervor. Hierüber abschließend zu urteilen,
wird erst möglich sein, wenn die Geschichte des Schlieffenplanes
und seiner Behandlung bekannt wird. Man möchte annehmen, daß
eine genügende Verständigung zwischen der politischen Leitung
und den militärischen Stellen nicht stattgefunden hat*). Denn es
ist bekannt, daß 1914 ein anderer Kriegsplan, der die Schonung der
belgischen Neutralität vorgesehen hätte, gar nicht vorhanden
war (Österreichisches Rotbuch 1919, III, Nr. 114). Der deutschen
Regierung blieb also keine Wahl. Es fragt sich aber,
*) Der frühere Kriegsminister v. Stein schreibt allerdings in seinen
"Erlebnissen und Betrachtungen aus der Zeit des Weltkrieges"
(Leipzig 1919, S. 43): Ein Geschichtsforscher hat mich gefragt, ob die
Aufmarschpläne im Einvernehmen mit dem Leiter der Politik aufgestellt
würden. Das halte ich für selbstverständlich. Wie sich
dabei der Chef des Generalstabs mit der Reichsregierung auseinandersetzt,
weiß ich nicht. Es müßte aber eine merkwürdige Staatsleitung
sein, die dem Generalstabschef seine eigene Politik überlassen würde.
Tirpitz berichtet dagegen (Erinnerungen, S. 228): "Dabei hatte der
Kanzler in seiner Scheu vor Klarheit den Ernstfall so wenig vorbereitet,
daß Gesamterwägungen zwischen den politischen und militärischen
Spitzen niemals stattgefunden hatten, weder über die politisch-strategischen
Probleme der Kriegsführung, noch über die Aussichten eines Weltkrieges
überhaupt. Auch über den Einmarsch in Belgien, der, wenn er
geschah, sofort maritime Fragen aufwarf, bin ich niemals unterrichtet
worden."
Wenn andererseits Schoen (Erlebtes, S. 190) behauptet, selbst als Staatssekretär
sei ihm von militärischer Seite niemals ein Wort über Pläne
eines Durchmarsches durch Belgien gesagt worden, so muß eine Gedächtnisirrung
oder ein Spiel mit Worten vorliegen. Denn es ist undenkbar, daß
sich ein langjähriger , Leiter des Auswärtigen Amts niemals
mit dieser Frage befaßt habe, die in der militärpolitischen
Literatur aller Länder seit Jahrzehnten eine Rolle spielte. Ein derartiges
Verhalten würde einer groben Pflichtversäumnis gleichkommen.
ob sie nicht bereits in früheren Jahren, zum mindesten seit Einführung
der schweren Mörser, dem vorbeugen konnte, daß sie im Kriegsfalle
gezwungen würde, eine Völkerrechtsverletzung zu begehen und
den Feldzug mit einem derartig unheilvollen Schritt zu beginnen.
Erfreulich ist immerhin, daß offenbar die politische Leitung und
die militärischen Stellen in dem Wunsche übereinstimmten, Belgien
die größtmögliche Schonung angedeihen zu lassen.
Wird
fortgesetzt...
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