III.
Das Verhalten der Mächte
3. Englands Stellungnahme zum austro-serbischen Konflikt
Die englische Regierung faßte von vornherein die Möglichkeit
ins Auge, daß ein Konflikt der Mächte aus dem österreichischserbischen
Streit hervorgehen könne. Während sie sich auf den Standpunkt
stellte, sich in den letzteren nicht einmischen zu wollen, machte sie
frühzeitig Vorschläge, um die Gefahr einer Ausdehnung dieses
Konfliktes zu vermindern und für den Fall einer österreichischrussischen
Spannung eine Vermittlung der Mächte herbeizuführen. Am 24.
Juli erklärte Grey, wenn das Wiener Ultimatum zu keinem Zwist zwischen
Österreich-Ungarn und Rußland führe, so habe er nichts
damit zu tun. Für den anderen Fall aber regte er an, daß eine
Vermittlung der vier Mächte Deutschland, England, Frankreich und
Italien im Sinne einer Mäßigung zugleich in Wien und Petersburg
stattfinden solle. Grey bat ferner, im Sinne einer Fristverlängerung
in Wien vorstellig zu werden, d. h. um Einwirkung auf Österreich-Ungarn, daß es seine militärischen
Maßnahmen gegen Serbien nicht überstürze, damit Zeit gewonnen
werde (Deutsche Dokumente Nr. 157, Englisches Blaubuch Nr. 11). Dieser
Doppelvorschlag lag am 25. Juli in Berlin vor. Er wurde unverzüglich
nach Wien weitergegeben (Deutsche Dokumente Nr. 171) und zugleich Lichnowsky
mitgeteilt, daß der Vorschlag auf Fristverlängerung wenig Aussicht
auf Annahme habe (Deutsche Dokumente Nr. 164). Der Vorschlag einer Vermittlung
der vier Mächte zwischen Wien und Petersburg wurde deutscherseits
angenommen. Jagow erklärte sofort dem englischen Geschäftsträger,
"wenn die Beziehungen zwischen Österreich und Rußland
drohend würden, sei er durchaus bereit, auf Greys Vorschlag der Zusammenarbeit
der vier Mächte zugunsten von Mäßigung in Wien und Petersburg
einzugehen". (Englisches Blaubuch Nr. 18.)
Eine Antwort aus Wien erfolgte nicht. Unabhängig von diesen englischen
Vorschlägen ließ jedoch die österreichisch-ungarische
Regierung am 24. Juli in London erklären, sie beabsichtige nicht,
sofort nach Ablauf des Ultimatums militärisch einzugreifen (österreichisches
Rotbuch 1919, II, Nr. 13, Englisches Blaubuch Nr. 14). Damit war bereits
dem zweiten Teil des Vorschlages Greys Rechnung getragen (vgl. Deutsche
Dokumente Nr. 180). Eine englische Demarche in Wien im Sinne der Deutschen
Dokumente Nr. 157, Englisches Blaubuch Nr. 11 ist anscheinend nicht erfolgt.
Am 25. Juli erweiterte Grey in Weisungen nach Petersburg, Berlin und Wien
seinen Vermittlungsvorschlag dahin, daß die vier Mächte, wenn
es zu einer Mobilmachung der russischen und österreichisch - ungarischen
Streitkräfte käme, gemeinsam Rußland und Österreich-Ungarn bitten sollten, die Grenze nicht zu überschreiten,
und den Mächten Zeit zu geben, zwischen ihnen zu vermitteln (Englisches
Blaubuch Nr. 24, 25, 26, Russisches Orangebuch Nr. 22). Diesen erweiterten
Vorschlag teilte er ebenfalls Lichnowsky mit (Deutsche Dokumente Nr. 180).
Die deutsche Regierung antwortete hierauf am gleichen Tage, sie sei, falls
ein österreichischrussischer Streit entstehen sollte, bereit, vorbehaltlich
ihrer bekannten Bündnispflichten, zwischen Österreich und Rußland
mit den anderen Großmächten zusammen eine Vermittlung eintreten
zu lassen (Deutsche Dokumente Nr. 192). Die Annahme dieser beiden Vermittlungsvorschläge
seitens der deutschen Regierung bedeutete ein größeres Entgegenkommen,
weil hierin eine ausgesprochene Rücksichtnahme auf Rußlands
Sonderstellung in Bezug auf Serbien und seine besonderen Balkaninteressen
lag. Sie bildete ferner die Grundlage für eine gemeinsame deutsch-englische
Tätigkeit im Sinne der Erhaltung des europäischen Friedens.
Am 25. Juli trat Grey mit einer weiteren Anregung hervor: Deutschland
möge auf Wien einwirken, damit die (weder in London noch in Berlin
bekannte) serbische Antwort als befriedigend angesehen werde (Deutsche
Dokumente Nr. 186). Die Minister unternahmen diesen Schritt auf Grund
eines Telegramms des englischen Geschäftsträgers in Belgrad
vom gleichen Tage (Englisches Blaubuch Nr. 21, Deutsche Dokumente Nr.
191a), das, wie sich herausstellen sollte, den Inhalt der serbischen Note
wenig zutreffend wiedergab. Auch diese Anregung wurde noch in der Nacht
zum 26. Juli von Berlin nach Wien weitergegeben, war jedoch von den Ereignissen
überholt, als sie dort eintraf.
Auf diesen Vorschlag muß sich die Äußerung Jagows gemäß
dem Telegramm Szögyenys vom 27. Juli (österreichisches Rotbuch
1919, II, Nr. 68) beziehen:
So sei bereits gestern die englische Regierung durch den deutschen Botschafter
in London und direkt durch ihren hiesigen Vertreter an ihn, Staatssekretär,
herangetreten, um ihn zu veranlassen, den Wunsch Englands betreffs unserseitiger
Milderung der Note an Serbien zu unterstützen. Er, Jagow, habe darauf
geantwortet, er wolle wohl Sir E. Greys Wunsch erfüllen, Englands
Begehren an Euer Exzellenz weiterzuleiten, er selbst könne dasselbe
aber nicht unterstützen, da der serbische Konflikt eine Prestigefrage
der österreichisch-ungarischen Monarchie sei, an der auch Deutschland
partizipiere.
Er, Staatssekretär, habe daher die Note Sir E. Oreys an Herrn von
Tschirschky weitergegeben, ohne ihm aber Auftrag zu erteilen, dieselbe
Euer Exzellenz vorzulegen; darauf hätte er dann dem englischen Kabinett
Mitteilung machen können, daß er den englischen Wunsch nicht
direkt ablehne, sondern sogar nach Wien weitergegeben habe.
Bekanntlich hat der englische Geschäftsträger auf Grund des
Telegramms Greys vom 25. Juli (Englisches Blaubuch Nr. 27, die Annahme
der serbischen Antwort betreffend) einen Schritt beim Auswärtigen
Amt unternommen, über dessen Erfolg sein Telegramm vom 26. Juli (Englisches
Blaubuch Nr. 34) berichtet. Die Art der Weitergabe der englischen Anregung
nach Wien läßt sich aus der Anmerkung zu Nr. 186 der Deutschen
Dokumente nicht erkennen. Aus dem österreichischen Rotbuch 1919 (II,
Nr. 57) geht aber hervor, daß der deutsche Botschafter in Wien den
Wunsch Greys dort zur Sprache gebracht hat. Worin also die von Szögyeny
gemeldete Irreführung Englands bestehen soll, ist nicht ersichtlich.
Der 26. Juli war ein Sonntag, und infolgedessen "niemand im Foreign
Office zu sprechen" (Deutsche Dokumente Nr. 218). Trotzdem fand an
diesem Tage ein völliger Umschwung der Haltung der englischen Regierung,
d. h. Greys, statt. Was an diesem Tage in London vor sich ging, wird wohl
ewig Geheimnis bleiben. Bezeichnend ist, daß das englische Blaubuch
kein Telegramm nach Petersburg, und außer Nr. 36, den Vorschlag
einer Botschafterkonferenz, der weiter unten zu behandeln ist, nur ein
Telegramm (Nr. 37) nach Paris wiedergibt, das um Antwort auf den Vorschlag
einer Vermittlung der vier Mächte bittet. Auch nach Rom (Nr. 36 ausgenommen)
und nach Wien gingen angeblich keine Telegramme von Bedeutung. In irgend
einer Form ist aber der englische Vorschlag vom 26. Juli (Englisches Blaubuch
Nr. 36) auch nach Petersburg mitgeteilt worden (siehe Englisches Blaubuch
Nr. 53 und Russisches Orangebuch Nr. 32). Die Weisung an Buchanan ist
jedoch niemals veröffentlicht worden. Oman, der englische Offiziosus,
täuscht über die Lücken des Blaubuches und den Umschwung
vom 26. Juli dadurch hinweg, daß er bei der Erörterung der
englischen Vorschläge die verschiedenen Daten absichtlich durcheinander
wirft.
Wir besitzen aber einen russischen Situationsbericht aus London von diesem
Tage. In dem Bericht Benckendorffs vom 26. Juli heißt es:
Sir E. Grey hört nicht auf, mir zu wiederholen, daß seine nach
Berlin gerichteten Erklärungen dort auf keinen Fall gestatten, auf
die Neutralität Englands im Falle eines Krieges zu rechnen. Lichnowsky
war in der Tat sehr verwirrt, aber das kommt daher, weil es ihm weh tat,
daß es zum Kriege kommt. Ich bin gar nicht sicher, daß er
die Worte Oreys so verstanden hat, wie Grey es wünschte. Das wiederhole
ich Grey daher täglich und in den verschiedensten Tonarten. Er versteckt
sich hinter der Hoffnung auf Verhandlungen. Mir gelingt es nicht, ihn
vorwärts zu bringen.
Zum Unglück ist Cambon nicht hier, er wird erst Dienstag morgen zurückkommen.
Ich habe ihn gebeten, seine Rückkehr zu beschleunigen. Ich hege die
Besorgnis, daß Grey seiner öffentlichen Meinung nicht ganz
sicher ist und befürchtet, daß man ihn nicht unterstützen
werde, wenn er zu früh hervortritt. Sie haben, glaube ich, Buchanan
gesagt, daß die ganze englische Presse, die "Times" ausgenommen,
nichts tauge. Das ist nicht ganz richtig. "Evening Post" und
andere Regierungsblätter gehen weiter. "Westminster Gazette"
verwandelt sich allmählich. Die Radikalen revoltieren aus anderen
Gründen offen gegen das Kabinett und tun alles mögliche, um
die serbische Frage der allgemeinen Teilnahme zu entziehen. Es muß
aber hinzugefügt werden, daß in diesem Lager nicht ein Wort
laut wird, das unsere Haltung tadelte oder gegen den Dreiverband als solchen
gerichtet wäre. Übrigens, von da bis zum Kriege ist es noch
weit. Hieraus entsteht alles Zaudern, so scheint mir wenigstens. Ganz
England ist vollständig von Ulster in Anspruch genommen und fängt
kaum an, zu erwachen. Seit gestern fängt es an, zu begreifen, daß
der Krieg möglich ist; seit gestern beunruhigt es sich erst darüber.
Daß auch England in den Krieg hineingezogen werden könnte,
das kann die langsame englische Einbildungskraft noch nicht fassen. Das
ist alles sehr traurig, aber es ist so. Es ist klar, daß man im
englischen Auswärtigen Amt weiter sieht, an anderen Stellen jedoch
nicht. Es will mir nicht gelingen, Grey die Maske abzunehmen. Ich kann
Ihnen nicht versprechen, daß mir dies gelingen wird. Ihre Stellung
ist prächtig. Die Zurückhaltung in Ihren Ausdrücken und
die Vorsicht, mit der Sie das Ziel Ihrer zukünftigen Handlungen vorbereiten,
sind wunderbar. Es ist nötig, unumgänglich notwendig für
Sie, sich die englische Mitarbeiterschaft zu sichern. Wenn sie auch spät
kommen wird, so wird sie doch unausbleiblich kommen. Ich wiederhole jedoch:
England ist noch nicht erwacht. Es ist leicht möglich, daß
Grey darunter nicht weniger leidet als wir; das hilft uns jedoch wenig.
Es ist wahr, daß Österreich, wie man sagt, nicht auf einmal
den Krieg beginnen wird. Vorläufig besteht noch ein kleiner Hoffnungsstrahl.
Was
die Rolle Deutschlands anbetrifft, so erscheint mir dieselbe in dunklerem
Lichte als allen übrigen. Und darauf stütze ich mich eben hier:
England fürchtet sich nicht so vor dem Vorrang Österreichs auf
der Balkanhalbinsel, wie vor dem Vorrang Deutschlands in der Welt. (Deutsche
Allgemeine Zeitung vom 28. 8. 1919.)
Am 27. Juli telegraphierte Benckendorff dagegen:
Die Sprache Greys ist seit heute viel klarer und merkbar fester als bisher.
Er rechnet sehr auf den Eindruck, der durch die bei der Flotte veranlaßten,
heute veröffentlichten und Sonnabend (25. Juli) abend beschlossenen
Maßnahmen hervorgerufen wurde. Das gestern eingetroffene Telegramm
Buchanans machte anscheinend einen sehr nützlichen Eindruck. Jedenfalls
hat die Zuversicht Berlins und Wiens in bezug auf die Neutralität
Englands keinen Grund mehr. (Prawda Nr. 7 vom 9. März 1919.)
Das Telegramm Buchanans, das den "sehr nützlichen Eindruck"
hervorrief, fehlt im englischen Blaubuch!
Der Umschwung in der Haltung der englischen Regierung machte sich sofort
in den diplomatischen Verhandlungen bemerkbar. Während sie bisher
erklärt hatte, sich in den österreichisch-serbischen Zwist nicht
hineinmischen zu wollen, schlug sie nunmehr eine Botschafterkonferenz
in London zur Lösung der österreichisch -serbischen Frage vor.
Die erste Nachricht von diesem Vorschlag Greys gelangte am 27. Juli in
dem wenig klaren Telegramm Lichnowskys (Deutsche Dokumente Nr. 236) nach
Berlin. Seine Annahme hätte die Aufgabe der Lokalisierungspolitik
bedeutet. Die deutsche Regierung lehnte es ab, die Schwenkung Englands
mitzumachen, und erklärte, daß sich ihre Vermittlertätigkeit
auf die Gefahr eines österreichisch-russischen Konfliktes beschränken
müsse: es sei ihr nicht möglich, ihren Bundesgenossen in seinen
Auseinandersetzungen mit Serbien vor ein europäisches Gericht zu
ziehen (Deutsche Dokumente Nr. 248). Der englische Botschafter, der ebenfalls
noch am 27. Juli auf Grund von Greys Weisung (Englisches Blaubuch Nr.
36) den Konferenzvorschlag vertrat (Deutsche Dokumente Nr. 304), erhielt
von Jagow einen analogen Bescheid (Englisches Blaubuch Nr. 43).
Das Verfahren einer Botschafterkonferenz wäre überhaupt nur
mit Einwilligung der meist interessierten Parteien anwendbar gewesen.
Österreich-Ungarn hat es abgelehnt, diesen Weg zu beschreiten (Österreichisches
Rotbuch 1919, II, Nr. 81), da "dieser Vorschlag an und für sich
nicht geeignet war, die Interessen der Monarchiesicherzustellen".
(Österreichisch-ungarisches Rotbuch 1914, Einleitung.) Rußland
erklärte sich zwar mit diesem Vorschlage im Prinzip einverstanden,
zog aber den Weg direkter Besprechungen mit Wien vor, den auch die deutsche
Regierung als den besten ansah (Russisches Orangebuch Nr. 32, Englisches
Blaubuch Nr. 53, Deutsche Dokumente Nr. 248). Die russische Antwort bedeutete
eine Ablehnung des Konferenzvorschlages. Es ist bezeichnend, daß
das Telegramm Buchanans über den ihm von Sasonow erteilten Bescheid
im englischen Blaubuch fehlt, beziehungsweise bis zur Unkenntlichkeit
zusammengestrichen ist, falls Nr. 45 das betreffende Dokument darstellen
sollte. Die Ablehnung wird darin sicherlich viel klarer als in dem russischen
Telegramm zum Ausdruck gekommen sein. Im übrigen meldete der französische
Botschafter am 29. Juli; "er sei nunmehr in der Lage, versichern
zu können, daß sich die russische Regierung jedem Vorgehen
anschließe, das Frankreich und England zur Erhaltung des Friedens
vorschlagen würden". (Französisches Gelbbuch Nr. 86.) Zunächst
hatte Rußland dies also abgelehnt.
In seinen Erinnerungen (a. a. O., S. 256) gibt Paleologue freilich seinem
Telegramm vom 29. Juli einen ganz anderen Sinn und legt ihm eine sehr
viel größere Bedeutung bei. Er behauptet, Sasonow die Zusicherung
abgerungen zu haben, daß er im voraus jeden beliebigen Vorschlag
annehme, den die französische und englische Regierung (künftig)
im Interesse des Friedens machen würden. Diese Darstellung verdient
jedoch keinen Glauben. Einmal steht sie auf derselben Tagebuchseite, die
eine von A bis Z frei erfundene Unterredung mit Pourtales wiedergibt.
Sodann läßt der Wortlaut des französischen Gelbbuches
diese Auslegung nicht zu. Ein so ungeheuer weitgehendes Versprechen Sasonows
wäre vom Botschafter in seinem Telegramm gebührend unterstrichen
worden. Schließlich berichtet er, der englische Botschafter habe
der Regierung in London eine entsprechende Meldung erstattet. Buchanan
berichtet aber nur, Sasonow sei bereit, in jeder von Frankreich und England
gebilligten Form zu verhandeln. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger,
als die Annahme des am 26. Juli ergangenen Vorschlages einer Botschafterkonferenz
- am 29. Juli! Auf diese kam Sasonow selbst zurück, nachdem die direkten
Besprechungen, die er bis dahin bevorzugt hatte, nach seiner Auffassung
gescheitert waren. Nach dem Wortlaut des englischen Blaubuches (Nr. 78),
das die Unterredung ausführlich wiedergibt, kann sich die Einwilligung
Sasonows auf nichts anderes als auf die Botschafterkonferenz oder ein
analoges Verfahren beziehen. Würde die Lesart richtig sein, die Paleologue
nachträglich erfunden hat, so wäre die Verantwortung noch größer,
die auf die Regierungen in Paris und London fällt. Sie hätten
ja nur vorzuschlagen brauchen, die allgemeine Mobilmachung in Rußland
zu unterlassen, und der Weltkrieg wäre verhindert worden. Für
die deutsche Regierung lag am 27. Juli noch weniger Grund vor, sich für
diesen englischen Vorschlag einzusetzen. Da Italien politisch auf der
Seite Serbiens stand, hätte sich Deutschland bei der Konferenz der
Majorität der drei anderen Konferenzteilnehmer gegenüber befunden.
Hiervon aber abgesehen konnten die Erfahrungen der Londoner Botschafterkonferenz
während der Balkankriege, wo man sich in den von allen Beteiligten als qualvoll empfundenen
endlosen Verhandlungen in Wochen, ja Monaten nicht über ein einziges
Dorf einigen konnte, unmöglich zu einer Wiederholung dieses Verfahrens
ermutigen. Wie aus dem Telegramm Sasonows nach London und Paris vom 12.
Februar 1914 - Nr. 252 - bekannt ist, wollte Grey selbst von derartigen
Konferenzen damals nichts mehr wissen (vgl. v. Siebert. S. 805). Die Verhandlungen
hätten sich auch in diesem Falle zweifellos lange hingezogen, während
gleichzeitig die militärischen Vorbereitungen Rußlands, die
bereits am 25. Juli begonnen hatten, ihren raschen Fortgang nahmen. Das
hätte schließlich zu Gegenmaßnahmen der Mittelmächte
führen müssen, und es wäre eine nervöse Atmosphäre
geschaffen worden, die einen friedlichen Ausgang schwerlich gefördert
hätte. Gerade aus dieser Erwägung heraus, aus der Sorge vor
einer Europäisierung des Konfliktes, ist das Bestreben der deutschen
Regierung vom ersten Augenblick darauf gerichtet gewesen, die Auseinandersetzung
zwischen Österreich-Ungarn und Serbien zunächst auf diese beiden
Staaten zu beschränken und, falls dies nicht gelang, wenn Rußland
sich nicht bewegen ließ, auf eine Einmischung in die Streitfrage
zu verzichten, dann wenigstens zu verhindern, daß der Konflikt sich
zu einer Machtfrage zwischen den beiden Gruppen auswachse, in die Europa
geteilt war (Deutsche Dokumente Nr. 279, 314). Dieser Gefahr konnte nach
Ansicht der deutschen Regierung am zweckmäßigsten durch einen
direkten Ausgleich zwischen Österreich-Ungarn und Rußland begegnet
werden, da diese beiden Mächte als nächstbeteiligte am ehesten
in der Lage waren, eine befriedigende Lösung zu finden, viel leichter
jedenfalls und viel schneller, als die Vertreter der vier nicht unmittelbar
beteiligten Mächte in London. Von gegnerischer Seite ist der deutschen
Regierung aus der Ablehnung des Londoner Konferenzvorschlages ein besonderer
Vorwurf gemacht worden, und es ist behauptet worden, damit sei die einzige
Möglichkeit, den europäischen Frieden zu erhallen, verabsäumt
worden. Diese Darstellung, die dem wahren Sachverhalt nicht Rechnung trägt,
begründet sich lediglich mit der Tatsache, daß dies der einzige
der zahlreichen englischen Vorschläge gewesen ist, den die deutsche
Regierung nicht annahm. Grey hat sich den deutschen Bedenken gegen den
Konferenzvorschlag nicht verschlossen. Er stellte ihn selbst zu Gunsten
der inzwischen eingeleiteten direkten Besprechungen zwischen Wien und
Petersburg zurück (Englisches Blaubuch Nr. 67, 68). Auch der französische
Botschafter in Berlin vertrat den Standpunkt, daß eine formelle
Konferenz unnötig, und daß ein gemeinsames Vorgehen der vier
Mächte in Wien und Petersburg, dem Deutschland zugestimmt hatte,
sich auf dem üblichen diplomatischen Wege ausführen ließe
(Französisches Gelbbuch Nr. 73). Desgleichen äußerten
die Botschafter der Verbandsmächte in Wien sogleich Zweifel an der
Durchführbarkeit des Konferenzvorschlages (Englisches Blaubuch Nr.
40).
An diesen Konferenzvorschlag knüpft das machiavellistische Telegramm
Szögyenys vom 27. Juli (österreichisches Rotbuch 1919, II, Nr.
68) an. Die Unterredung mit Jagow fand offenbar zwischen dem Eingang des
Telegramms Licbnowskys (Deutsche Dokumente Nr. 23ß) und der Demarche
des englischen Botschafters (Deutsche Dokumente Nr. 304, Englisches Blaubuch
Nr. 43) statt:
Staatssekretär erklärte mir in streng vertraulicher Form sehr
entschieden, daß in der nächsten Zeit eventuell Vermittlungsvorschlage
Englands durch die deutsche Regierung zur Kenntnis Euer Exzellenz gebracht
würden.
Die deutsche Regierung versicherte auf das bündigste, daß sie
sich in keiner Weise mit den Vorschlägen identifiziere, sogar entschieden
gegen deren Berücksichtigung sei und dieselben, nur um der englischen
Bitte Rechnung zu tragen, weitergebe.
Sie gehe dabei von dem Gesichtspunkt aus, daß es von der größten
Bedeutung sei, daß England im jetzigen Moment nicht gemeinsame Sache
mit Rußland und Frankreich mache. Daher müsse alles vermieden
werden, daß der bisher gut funktionierende Draht zwischen Deutschland
und England abgebrochen werde. Würde nun, Deutschland Sir E. Grey
glatt erklären, daß es seine Wünsche an Österreich-Ungarn,
von denen England glaubt, daß sie durch Vermittlung Deutschlands
eher Berücksichtigung bei uns finden, nicht weitergeben will, so
würde eben dieser vorerwähnte, unbedingt zu vermeidende Zustand
eintreten.
Die deutsche Regierung würde übrigens bei jedem einzelnen derartigen
Verlangen Englands in Wien demselben auf das ausdrücklichste erklären,
daß es in keiner Weise derartige Interventionsverlangen Österreich-Ungarn
gegenüber unterstütze und nur, um Wunsch Englands zu entsprechen,
dieselben weitergebe.
Die Mehrzahl - Vorschläge - ist natürlich Unsinn. Kein Politiker
wird zu Anregungen bindend Stellung nehmen, die er überhaupt noch
nicht kennt. Jagow hat offensichtlich nur von der Botschafterkonferenz
gesprochen, die Nicolson und Tyrrell gegenüber Lichnowsky erwähnt
hatten, die aber noch nicht offiziell angeregt worden war. Was die weitere
Behandlung dieses englischen Vorschlags anlangt, so ist seine Weitergabe
von Berlin nach Wien deutscherseits überhaupt nicht erfolgt. Darum
hat London auch niemals gebeten. Der englischen Regierung ist auch die
Berliner Stellungnahme klipp und klar mitgeteilt worden (Deutsche Dokumente
Nr. 248, Englisches Blaubuch Nr. 43). Jagow kam es anscheinend darauf
an. daß Österreich-Ungarn nicht durch Eingehen auf den englischen
Vorschlag einer Botschafterkonferenz Deutschland in die schwierige Lage
bringe, den Strauß in London allein durchzufechten und Forderungen
zu vertreten, die es selbst nicht völlig billigte. Wie Lichnowsky
damals (im Gegensatz zu 1916) über diese Möglichkeit dachte,
geht aus seinem Telegramm vom 30. Juli 1914 (Deutsche Dokumente Nr. 418)
hervor, in dem es, heißt:
Halte Berlin für geeigneter als London zur Vermittlung einer Einigung
zwischen Wien und Petersburg, da Sir E. Grey weniger mit ganzer Frage
vertraut, auch weniger Einfluß in Wien besitzt, und ich langwierige
Verhandlungen hier voraussehe, namentlich falls Botschafterkonferenz stattfinden
sollte. Graf Mensdorff auch zu ängstlich und ohne Einfluß in
Wien oder eigene Initiative.
Weiter:
Frankreichs Stellungnahme zum austro-serbischen Konflikt
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