III.
Das Verhalten der Mächte
4. Frankreichs Stellungnahme zum austro-serbischen Konflikt
Die Haltung der französischen Diplomaten gegenüber dem heraufziehenden
austro-serbischen Konflikt ist in der Zeit vor Überreichung der österreichisch-ungarischen
Note durchweg parteiisch serbenfreundlich gewesen. Schon am 2. Juli wußte
Dumaine aus Wien zu berichten, daß die Untersuchung, die Österreich-Ungarn
von Serbien fordern möchte, Bedingungen enthalten werde, die für
die Würde Serbiens unerträglich seien (Französisches Gelbbuch
Nr. 8). Als Paleologue am 6. Juli aus Petersburg meldete, Sasonow habe
erklärt, es sei unzulässig, daß Österreich-Ungarn
den Anstiftern des Mordes von Sarajevo auf serbischem Gebiet nachspüre,
und Österreich-Ungarn gewarnt, sich auf diesen Weg zu begeben, fügte
er hinzu: "Möge diese Warnung nicht vergeblich sein". (Französisches
Gelbbuch Nr. 10.)
Andererseits erklärte aber Poincare am 4. Juli, er sei überzeugt,
"die serbische Regierung werde bei der gerichtlichen Untersuchung
und der Verfolgung eventueller Mitschuldiger das größte Entgegenkommen
zeigen. Einer solchen Pflicht könne sich kein Staat entziehen".
(Österr.-ungar. Rotbuch 1914, Nr. 4.) Auch Dumaine sah noch am 22.
Juli Österreich-Ungarns Forderungen wegen der Bestrafung des Attentates
und gewisser Garantien für die Überwachung und die Polizeiaufsicht
als "für die Würde Serbiens nicht unannehmbar" an
(Französisches Gelbbuch Nr. 18).
Unmittelbar nach dem Mord in Sarajevo war die französische Regierung
in ähnlicher Weise beunruhigt wie die englische: Auch in Paris kannte
man, vielleicht noch besser als in London, die russischen Versprechungen
an Serbien. Der Gesandte Vestnitsch hat über ein Gespräch berichtet,
das er am 1. Juli mit dem Ministerpräsidenten hatte, den das "Ereignis"
von Sarajevo "ziemlich beunruhigt" hatte. Er meldet, Viviani
habe "den Wunsch und die Hoffnung ausgesprochen, daß bei uns
(in Serbien) die Kaltblütigkeit und die Würde aufrecht bleiben
mögen, um Wien nicht Gründe zu neuen Anschuldigungen zu geben".
(Serbisches Blaubuch Nr. 13.) In Paris war man also auf Verwicklungen
gefaßt und empfahl den Serben anständiges Benehmen.
Der Pariser Regierung wurde jedoch ihre Haltung im austro-serbischen Konflikt
durch ein Telegramm des Ministerpräsidenten und Ministers des Äußern
Viviani vorgezeichnet, das dieser ohne
Kenntnis der österreichisch-ungarischen Demarche in Belgrad in der
Nacht vom 23. zum 24. Juli aus Reval absandte (Französisches Gelbbuch
Nr. 22). Aus diesem Telegramm geht hervor, daß Frankreich und Rußland
eine gemeinsame Intervention in Wien zu Gunsten Serbiens vereinbart und
England aufgefordert hatten, sich an diesem Schritt zu beteiligen. Trotzdem
fand der deutsche Lokalisierungsvorschlag, wie bereits erwähnt, am
24. Juli in Paris beim stellvertretenden Ministerpräsidenten zunächst
eine günstige Aufnahme. Auch Österreich-Ungarn gegenüber
zeigte Bienvenu-Martin Entgegenkommen, indem er erklärte, die Ereignisse
der letzten Zeit und die Haltung der serbischen Regierung ließen
ein energisches Einschreitens Österreich-Ungarns ganz begreiflich
erscheinen (österreichisches Rotbuch 1919, II, Nr. 9).
Zugleich aber machte sich das Bestreben geltend, den Konflikt zu europäisieren,
Deutschland in denselben hineinzuziehen und Deutschland in Gegensatz zu
Rußland zu bringen. Die französischen Vertreter im Ausland
wetteiferten mit der Regierung in Paris in Verdächtigungen der deutschen
Haltung vor und nach der Überreichung der österreichisch-ungarischen
Note in Belgrad.
Der französische Botschafter in Berlin hat in seinen Erinnerungen
seine Haltung selbst wie folgt gekennzeichnet: "Als ich die österreichische
Note an Serbien überflogen hatte, stand meine Meinung fest. Ich hatte
das Gefühl der Gewißheit, daß der Konflikt unvermeidlich
sei; immerhin mußte man versuchen ihn zu verhindern. Vor allem war
es angesichts der Tatsache, daß Deutschland offensichtlich entschlossen
war, uns [Frankreich] anzugreifen (!), notwendig, der Welt zu zeigen,
daß Deutschland die Verantwortung und die Schuld am Kriege trage.
Von diesem Gedanken waren alle meine Schritte, alles was ich in den folgenden
Tagen unternahm, geleitet"*). Er meldete seiner Regierung, Deutschland
habe Österreich-Ungarn zum Kriege (gegen Serbien) gedrängt (Deutsche
Dokumente Nr. 415). Er verbreitete, Berlin habe Wien zu der scharfen Note
an Serbien veranlaßt und sei an deren Abfassung beteiligt. Hartnäckig
hielt er an dieser Ansicht fest (Deutsche Dokumente Nr. 153, Französisches
Gelbbuch Nr. 15, 17, 30, 35).
Der französische Botschafter in Wien knüpfte am 28. Juli an
die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien die Verdächtigung,
"daß Deutschland zum Angriff auf Serbien gedrängt habe,
um selbst unter den nach seinem Dafürhalten günstigsten Umständen
und unter wohlerwogenen Bedingungen mit Rußland und Frankreich in
den Kampf eintreten zu können". (Französisches Gelbbuch
Nr. 83.)
*) Jules Cambon, Revue de France Nr. 7 vom 15. Juli 1921.
Der französische Botschafter in London bemühte sich von Anfang
an, Grey zum Eingreifen anzutreiben. Bereits am 24. Juli befürwortete
er eine Intervention der Mächte in Wien. Während er eine Einwirkung
auf Petersburg als unangebracht hinstellte, schlug er vor, daß Deutschland
eine Vermittlung der Mächte zwischen Wien und Belgrad herbeiführen
solle (Englisches Blaubuch Nr. 10). Der französische Botschafter
in Petersburg hat sich vollends als Kriegshetzer erwiesen. Bereits am
20. Juli sprach er dem Zaren von seinen Befürchtungen eines nahen
Krieges. Deutschlands Pläne seien es, die ihn beunruhigten (Paleologue,
a. a. O., S. 233). In der aus dem englischen Blaubuch (Nr. 6) bekannten
Unterredung vom 24. Juli zwischen Sasonow, Buchanan und Paleologue erklärte
letzterer, Frankreich sei zum Kriege um die serbische Frage bereit. Frankreich
würde alle Verpflichtungen erfüllen, die das Bündnis mit
Rußland nach sich ziehen müßte. Obwohl Sasonow in dieser
Unterredung (gemäß dem englischen Blaubuch Nr. 6) von Krieg
und Mobilmachung sprach, berichtete Paleologue nach Paris: "Die Absichten
des Zaren und seiner Minister sind die friedlichsten". Er, der immer
wieder erklärte, das Vorgehen Österreich-Ungarns sei auf deutsche
Machenschaften zurückzuführen, behauptet jetzt von Sasonow,
dieser hege die Befürchtung, "daß Deutschland seinen Verbündeten
wird unterstützen wollen". - "Einzig die Bekräftigung
des festen Zusammenstehens des Dreiverbandes kann die germanischen Mächte
daran hindern, ihre herausfordernde Haltung noch bestimmter zu betonen".
(Französisches Gelbbuch Nr. 31.) Man muß sich fragen, ob in
diesen Tagen die Regierung in Paris, jene in Petersburg oder der Botschafter
Paleologue die Haltung Frankreichs bestimmt haben. In einer zweiten Unterredung
mit Sasonow, ebenfalls vom 24. Juli, sprach er - nach seinen eigenen Schilderungen
(a. a. O., S. 249) - in erster Linie vom Gegensatz zwischen Deutschland
und Rußland. Auch verbreitete er in Petersburg, Deutschland treibe
zum Konflikt. Es handele sich schon jetzt nicht mehr um einen austro-serbischen,
sondern um einen russischdeutschen Konflikt (Deutsche Dokumente Nr. 215).
Infolgedessen sah sich der deutsche Botschafter veranlaßt, eine
Erklärung an die Presse abzugeben und am 25. Juli die aus dem russischen
Orangebuch (Nr. 18) bekannte Note zu überreichen.
Die Wetschernoje Wremja mußte am 26. Juli, einem Sonntag, eine
Extra-Ausgabe veranstalten, um Paleologues Kriegstrompete erschallen zu
lassen (Deutsche Dokumente Nr. 289, 290). An diesem Tage fand in Petersburg
eine gewisse Entspannung statt. Der österreichisch-ungarische Botschafter
hatte eine Unterredung mit dem russischen Außenminister, deren befriedigender
Verlauf allseitig festgestellt wurde. Paleologue aber hetzte nach wie
vor. Hätten wir es nur mit Österreich zu tun, erklärte
er Sasonow noch am gleichen Nachmittage, dann würde ich noch Hoffnung haben. Man muß
aber mit Deutschland rechnen... Wir werden dem Kriege nicht entgehen (Paleologue,
a. a. O., S. 252). Als am 28. Juli Sa-sonow von dem deutschen Botschafter
mit bewegten Worten vor militärischen Maßnahmen und den Folgen
einer Mobilmachung gewarnt worden war (Deutsche Dokumente Nr. 338), erklärte
Paleologue anschließend dem russischen Minister: Pourtales sei nur
deshalb erregt, weil er sich zweifellos für die Krisis persönlich
verantwortlich fühle. Die Haltung der deutschen Regierung sei auf
ihn und seine falsche Berichterstattung zurückzuführen (a. a.
O., S. 255). Diese Hetzereien blieben nicht ohne Wirkung. Der Niederschlag
der konsequenten Verdächtigungen Paleologues findet sich in dem Telegramm,
das Sasonow am 28. Juli nach London und Paris richtete (Russisches Orangebuch
Nr. 43).
über die Teilmobilmachung gegen Österreich war der Botschafter
bereits am 25. Juli unterrichtet. Als erster erfuhr er von der allgemeinen
Mobilmachung, die den Krieg zur Folge haben mußte. In seinen Erinnerungen
schildert er, wie am 29. Juli, um 11 Uhr abends,,der stellvertretende
Direktor im Ministerium des Äußeren, Basily, gekommen sei,
um ihm den Beschluß bekannt zu geben: erstens die Mobilmachung der
dreizehn Armeekorps, die gegen Österreich-Ungarn bestimmt seien,
sogleich bekannt zu geben, und zweitens heimlich mit der allgemeinen Mobilisierung
zu beginnen. Was entgegnete Paleologue auf diese Mitteilung, deren Bedeutung
er sofort richtig einschätzte? "Ich bin der Ansicht, daß
der russische Generalstab keine Maßnahmen ergreifen sollte, ohne
sich darüber vorher mit dem französischen verständigt zu
haben." (A. a. O., S. 257.) Unter Würdigung seiner besonderen
Verdienste um Rußland und um den Krieg hat man Paleologue, und nur
ihm, die Auszeichnung zuteil werden lassen, am 2. August der Feier beizuwohnen,
bei der der Aufruf des Zaren an seine Völker verlesen wurde (a. a.
0., S. 264).
Die Veröffentlichungen unserer Gegner zeigen ferner, daß die
französischen Botschafter in Berlin, Petersburg und London in den
ersten Tagen der Verhandlungen nahezu gar nichts getan haben, um einer
friedlichen Lösung die Wege zu ebnen. Von einer mäßigenden
Einwirkung auf den russischen Bundesgenossen war keine Rede*). Vielmehr
zeigten sie sich bemüht, das Revaler
*) Paleologue will freilich am 28. Juli Sasonow gebeten haben, "an
der deutschen Front keine militärischen Maßnahmen zu treffen
und selbst an der österreichischen sehr vorsichtig zu sein, bis Deutschland
seine Karten aufdecke. Die geringste Unvorsichtigkeit Ihrerseits würde
uns die englische Unterstützung kosten". - "Das ist auch
meine Ansicht", entgegnete Sasonow, "aber unser Generalstab
wird ungeduldig, und ich habe schon große Mühe, ihn zurückzuhalten".
(Paleologue, a. a. O., S. 256.) Das französische Oelbbuch und der
Bericht an den französischen Senat (704/1919) enthalten hierüber
nichts.
Aktionsprogramm vom 24. Juli (Französisches Gelbbuch Nr. 22) mit
seiner serbenfreundlichen, europäisierenden, gegen die Mittelmächte
gerichteten Tendenz in die Wirklichkeit umzusetzen.
Der Vollständigkeit halber sei jedoch eine Anregung erwähnt,
die der französische Botschafter in Berlin am 29. Juli gemacht hat.
Als bei einer Aussprache mit Jagow die Rede auf Sicherheiten für
die Verwirklichung der serbischen Versprechungen kam, schlug er anstelle
der Kontrolle einer einzelnen Macht, d. h. Österreich-Ungarns, die
einer internationalen Kommission vor, nach dem Muster der Finanzkommission
in Athen (Französisches Gelbbuch Nr. 92). Jules Cambon hat nicht
berichtet, wie der Staatssekretär seine Anregung aufnahm. Jedenfalls
war sie viel zu bedeutungslos, um nach Beginn der russischen Mobilmachung
noch beachtet zu werden. Die Pariser Regierung hat den Vorschlag, der
vielleicht auf ein Telegramm Vivianis vom 24. Juli zurückzuführen
ist*), nicht weiter verfolgt, keines der Farbbücher erwähnt
ihn überhaupt, in der Literatur blieb er unbeachtet, selbst die Pariser
Schuldkommission ist nicht auf ihn zurückgekommen. Nur in der Note,
mit der der Feindbund am 30. Dezember 1916 den Friedensvorschlag vom 12.
Dezember zurückwies, wird unter den vielen Sünden, die Deutschland
vorgehalten werden, auch die Ablehnung des französischen Vorschlags
einer internationalen Kommission aufgezählt. Der Vorwurf ist jedenfalls
nicht ernst gemeint, sonst wäre er auf der Friedenskonferenz wiederholt
worden.
Weiter:
Der
österreichisch-russische Konflikt
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