Die Krisis 

Die Grundlinien der diplomatischen Verhandlungen bei Kriegsausbruch 

Von 

B. W. VON BÜLOW

(1922)

V. Die deutsch-russische Krise

1. Die Gefahren militärischer Maßnahmen

Der deutsche Lokalisierungsvorschlag (Deutsche Dokumente Nr. 100), der am 24. Juli in Paris, London und Petersburg mitgeteilt wurde, schloß mit den Worten: "Wir wünschen dringend die Lokalisierung des Konfliktes, weil jedes Eingreifen einer anderen Macht infolge der verschiedenen Bündnisverpflichtungen unabsehbare Konsequenzen nach sich ziehen würde". Mit der Möglichkeit eines Eingreifens Rußlands war von vornherein gerechnet worden. Die deutsche Regierung war aber entschlossen, dieser Gefahr mit diplomatischen Mitteln entgegenzutreten, und hat hierzu ihren ursprünglichen Standpunkt (der Nichteinmischung in den austro-serbischen Streit) aufgegeben, sobald feststand, daß eine friedliche Lösung des austro-serbischen Konfliktes nicht möglich sei.
Für die Beurteilung der deutschen Haltung ist wesentlich, daß man in Berlin nicht mit der raschen Ausdehnung des Konfliktes zu einer europäischen Krise rechnete (Deutsche Dokumente Nr. 115, 116, 125). Ungeachtet der Gefahr, die für den Frieden Europas hiermit verbunden war, ergriff jedoch die russische Regierung unmittelbar nach Bekanntwerden des österreichisch-ungarischen Ultimatums an Serbien weitgehende militärische Maßnahmen. An Warnungen hat es nicht gefehlt. Am 25. Juli sprach der englische Botschafter Sasonow gegenüber persönlich "die ernste Hoffnung aus, Rußland werde nicht durch Mobilisierung den Krieg beschleunigen," und "warnte ihn, daß, wenn Rußland mobilisiere, Deutschland nicht mit bloßer Mobilisierung zufrieden sein, noch Rußland Zeit lassen würde, die seinige auszuführen, sondern wahrscheinlich sogleich den Krieg erklären würde" (Blaubuch Nr. 17). Am 27. Juli ermahnte Buchanan den Minister nochmals, "nichts zu tun, was einen Konflikt beschleunigen könnte" und "den Mobilmachungsukas so lange als möglich hinauszuschieben" (Englisches Blaubuch Nr. 44). Grey hat Lichnowsky, als dieser auf die Gefahren einer russischen Mobilmachung hinwies, wiederholt versichert, daß er einen beruhigenden Einfluß auf Petersburg ausübe (Deutsche Dokumente Nr. 258, 357, 435). Das Blaubuch enthält aber kein einziges Telegramm aus London, das eine Warnung vor der Mobilmachung ausspricht. Auch Oman weiß hierüber nichts zu berichten. Der englische Botschafter in Petersburg hat also lediglich aus eigenem Antriebe gehandelt. Seine Warnungen hörten am 27. Juli auf. Es gibt keinen Anhalt dafür, daß er seine Zusage an Pourtales vom 28. Juli erfüllt habe, Sasonow die Gefahr de. militärischen Maßnahmen vor Augen zu halten (Deutsche Dokumente Nr. 338).
An freundschaftlichen Warnungen von deutscher Seite hat es jedenfalls nicht gefehlt (Deutsche Dokumente Nr. 198, 219, 230, 338, 342, 343, 359, 365, 378, 380, 401). Sie hatten zur Folge, daß Sasonow nicht nur wiederholt die friedlichen Absichten Rußlands betonte und die getroffenen militärischen Maßnahmen in Abrede stellte, sondern auch, daß er am 26. Juli den Kriegsminister beauftragte, den deutschen Militärattache über die Lage zu beruhigen. Suchomlinow versicherte demgemäß dem Major von Eggeling, daß lediglich Vorbereitungsmaßnahmen getroffen würden, und daß keine Mobilmachungsorder ergangen sei. Erst wenn Österreich die serbische Grenze überschritte, würden die vier südwestlichen Militärbezirke mobilisiert werden, "unter keinen Umständen aber jene an der deutschen Front" (Deutsche Dokumente Nr. 242). Diese Angaben waren jedoch unzutreffend. Am 26. Juli hatte die Mobilmachung in Südrußland bereits begonnen. Sogar der Befehl, der die Festung Kowno in Kriegszustand versetzte, datiert vom 26. Juli, d. h. zwei Tage vor der österreichisch-ungarischen Kriegserklärung an Serbien, - ein Beweis dafür, daß Rußland die Erweiterung seiner militärischen Maßnahmen nicht von der Entwicklung der diplomatischen Verhandlungen abhängig machte, und daß diese Verhandlungen selbst vornehmlich dem Zwecke dienten, für die in raschem Fortgange befindliche Mobilmachung Zeit zu gewinnen.
Allein die französische Regierung hat es abgelehnt, in Petersburg zu Besonnenheit zu mahnen (Französisches Gelbbuch Nr. 62). Sie gab auch der russischen Regierung bekannt, daß sie dieselbe nicht zurückzuhalten beabsichtige (Russisches Orangebuch Nr. 28, Englisches Blaubuch Nr. 53, Schlußabsatz). Diese Stellungnahme muß auf die Petersburger Entschließungen ebenso verhängnisvoll gewirkt haben, wie die Zurückhaltung der englischen Flottenreserven, auf die Benckendorff durch Grey am 27. Juli ausdrücklich hingewiesen wurde (Englisches Blaubuch Nr. 47).

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Die russische Teilmobilmachung

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