V.
Die deutsch-russische Krise
2. Die russische Teilmobilmachung
Die am 25. Juli angeordnete Teilmobilmachung gegen Österreich-Ungarn
wurde am 28. Juli bekanntgegeben (Englisches Blaubuch Nr. 70, I).
Obwohl Österreich - Ungarn nur 8 Korps, und diese ausschließlich
gegen Serbien mobilisiert hatte, von einer militärischen Bedrohung
Rußlands also keine Rede sein konnte, mobilisierte Rußland
13 Armeekorps allein gegen Österreich-Ungarn. Als Grund hierfür
wurde die österreichische Kriegserklärung an Serbien angegeben
(Englisches Blaubuch Nr. 70, I). Nachträglich wurden auch die österreichisch-ungarischen
Rüstungen und die angebliche "Weigerung des Grafen Berchtold,
die Unterhandlungen zwischen Wien und Petersburg fortzusetzen", zur
Begründung angeführt (Deutsche Dokumente Nr. 343, 385, Französisches
Gelbbuch Nr. 95, 101, Russisches Orangebuch Nr. 58, 77).
Bereits die ersten Nachrichten von militärischen Maßnahmen
Rußlands haben in Berlin am 26. Juli eine gewisse Beunruhigung hervorgerufen.
Diese äußerte sich einmal in den bereits erwähnten Mahnungen
zur Besonnenheit, die nach Petersburg, London und Paris gerichtet wurden
(Deutsche Dokumente Nr. 198, 199, 200, 219). Dann aber auch in dem Telegramm
Jagows nach Bukarest mit der leisen Andeutung, daß möglicherweise
der Bündnisfall eintreten könnte (Deutsche Dokumente Nr. 214),
sowie in seiner Anfrage in Wien nach dem Stand der österreichisch-bulgarischen
Verhandlungen (Deutsche Dokumente Nr. 228).
Am 27. Juli scheint die deutsche Regierung weniger unter dem Eindruck
des unmittelbaren Bevorstehens einer europäischen Krisis gestanden
zu haben. Am 28. Juli wird aber ihre Besorgnis wegen der Mobilmachungsnachrichten
aus Rußland deutlich erkennbar. Bis zum Abend dieses Tages waren
nicht weniger als fünfzehn Meldungen über russische Kriegsvorbereitungen
einlaufen, die in den Deutschen Dokumenten aufgenommen worden sind
(Nr. 194, 216, 230, 242, 255, 264, 266, 274, 275, 276, 281, 291, 294,
295, 296). Wie nicht anders zu erwarten, wurde jetzt auch die Ansicht
des Generalstabs gehört. Moltke faßte aber die Lage noch sehr
ruhig auf. Er teilte nicht die Wiener Ansicht, daß eine ernste Warnung
in Petersburg angezeigt sei, und machte sich hierin die Auffassung der
Reichsregierung zu eigen (Deutsche Dokumente Nr. 281, 299). Auch sein
Urteil über die serbische Antwortnote lautete dahin, daß nunmehr
jeder Kriegsgrund für Österreich-Ungarn fortfalle (Deutsche
Dokumente Nr. 293). Gründe zur Besorgnis blieben aber.
Diese vermehrten sich am 29. Juli mit den immer zahlreicher einlaufenden
russischen Mobilmachungsnachrichten, zu denen nunmehr auch Anzeichen französischer
Kriegsvorbereitungen traten. Die Beunruhigung in Berlin äußerte
sich in einer Warnung nach Petersburg und Paris. Der russischen Regierung
wurde mitgeteilt, daß Deutschland durch weiteres Fortschreiten der
Mobilmachungsmaßnahmen zur Mobilmachung gezwungen würde,
und daß dann der europäische Krieg kaum noch aufzuhalten sein
werde (Deutsche Dokumente Nr. 342). Der Botschafter in Paris wurde angewiesen,
darauf aufmerksam zu machen, daß sich Deutschland durch französische
Kriegsvorbereitungen zu Schutzmaßregeln gezwungen sehen würde
(Deutsche Dokumente Nr. 341). Sonst ist aber bis zum Eintreffen der Nachricht
von der russischen Teilmobilmachung nichts von Belang veranlaßt
worden.
Eine unmittelbare Bedrohung der Sicherheit Deutschlands bedeutete diese
Teilmobilmachung nicht. Die russische Regierung versicherte ferner am
29. Juli sowohl in Petersburg (Russisches Orangebuch Nr.49, Englisches
Blaubuch Nr.93, II) als auch in Berlin (Deutsche Dokumente Nr. 399, Russisches
Orangebuch Nr. 51), daß die militärischen Maßnahmen Rußlands
keineswegs gegen Deutschland gerichtet seien. Sasonow hat Pourtales feierlich
beteuert, daß gegen Deutschland nicht das geringste geschehe (Deutsche
Dokumente Nr. 343). Zu gleicher Zeit wurden jedoch in den nordwestlichen
Gouvernements umfassende Kriegsvorbereitungen getroffen, die ausschließlich
Deutschland gelten mußten. Am 28. Juli waren sogar im Hafen von
Petersburg die Funkenapparate eines deutschen Dampfers entfernt worden.
Die russische Regierung wurde noch am 29. Juli auf die verhängnisvollen
Folgen hingewiesen, welche die Mobilmachung gegen Österreich-Ungarn
für die deutsche Vermittlungstätigkeit haben müsse. Das
betreffende Telegramm Bethmann Hollwegs lautet:
Russische Mobilmachung an österreichischer Grenze wird, wie ich annehme,
entsprechende österreichische Maßregel zur Folge haben. Wie
weit dann die rollenden Steine noch aufzuhalten sind, ist schwer zu sagen,
und ich fürchte, daß friedliche Absichten Herrn Sasonows dann
nicht mehr verwirklicht werden können. Um, wenn möglich, drohende
Katastrophe abzuwenden, wirken wir in Wien darauf hin, daß die österreichisch-ungarische
Regierung in Bestätigung ihrer früheren Versicherung Rußland
noch einmal formell erklärt, daß ihr territoriale Erwerbungen
in Serbien fernliegen und ihre militärischen Maßnahmen lediglich
eine vorübergehende Besetzung bezwecken, um Serbien zur Schaffung
von Garantien für künftiges Wohlverhalten zu zwingen.
Gibt Österreich-Ungarn eine solche Erklärung ab, so hat Rußland
alles erreicht, was es will. Denn daß Serbien die "verdiente
Lektion" erhalten müsse, hat Herr Sasonow Euerer Exzellenz gegenüber
selbst zugegeben.
Wir erwarten daher, daß Rußland, falls unser Schritt in Wien
Erfolg hat, keinen kriegerischen Konflikt mit Österreich herbeiführt.
(Deutsche Dokumente Nr. 380.)
Kaiser Wilhelm machte ebenfalls am 29. Juli den Zaren durch ein persönliches
Telegramm auf die verhängnisvolle Wirkung aufmerksam, welche die
russische Teilmobilmachung auf die von Deutschland betriebene Vermittlung
ausüben müßte (Deutsche Dokumente Nr. 359).
Die russische Regierung ließ sich aber von der planmäßigen
Fortsetzung ihrer Kriegsmaßnahmen nicht abbringen. Die dem österreichisch-ungarischen
Botschafter in Petersburg in Aussicht gestellte "note explicative",
welche die russische Teilmobilmachung rechtfertigen sollte, ist niemals
ergangen (Deutsche Dokumente Nr. 378, 723, österreichisches Rotbuch
1919, III, 19, 71). Die russischen Generäle drängten zum Kriege,
der Zar und seine Minister ließen sich von ihnen auf die Bahn unwiderruflicher
und verhängnisvoller Maßnahmen treiben.
Die russische Teilmobilmachung, die offensichtlich ganz unerwartet frühzeitig
erfolgte, muß der Berliner Regierung den ungeheuren Ernst der Lage
plötzlich vor Augen geführt haben. Es sind zwar am 29. Juli
keine ernsthaften militärischen Maßnahmen getroffen worden,
doch erfolgten am 29. und 30. Juli politische Schritte von Bedeutung.
Bekanntlich fand am 29. Juli abends in Potsdam eine Beratung statt. Wie
die Lage beurteilt wurde, ist aus dem ersichtlich, was anschließend
geschah. Bethmann Hollweg ließ den englischen Botschafter kommen
und machte ihm ein Angebot für die Neutralität Englands (Deutsche
Dokumente Nr. 373, Englisches Blaubuch Nr. 85). Dieser Schritt erfolgte
ohne Kenntnis der Erklärung Greys an Lichnowsky, England werde im
Fall eines europäischen Konfliktes nicht neutral bleiben (Deutsche
Dokumente Nr. 368). Er zeugt von einer so weitgehenden Verkennung der
tatsächlichen Haltung Englands, daß man selbst unter Berücksichtigung
der Irreführung durch London annehmen könnte, daß die
russische Teilmobilmachung an diesem Abend eine gewisse Kopflosigkeit
zur Folge hatte. Um so bemerkenswerter ist es, daß keine militärischen
Maßnahmen von Bedeutung angeordnet worden sind.
Ebenfalls an diesem Abend gingen eine Reihe der oben besprochenen Mahnungen
zum Einlenken nach Wien (Deutsche Dokumente Nr. 377, 384, 385, 395, 396).
Ebenso die Mitteilung nach Petersburg und London, daß deutscherseits
die Vermittlung weiter betrieben werde (Deutsche Dokumente Nr. 392, 393,
397).
Ferner wurde das Ultimatum an Belgien in einem verschlossenen Umschlag
nach Brüssel gesandt (Deutsche Dokumente Nr. 375, 376). Es sollte
hier gewissermaßen auf Eis liegen. Die Regierung behielt es in ihrer
Hand, diesen Erlaß zurückzuziehen, ohne daß sein Inhalt
auch nur zur Kenntnis des Gesandten gelangte, wenn der Lauf der Ereignisse
sich günstig entwickelte. Dieses Ultimatum ist bereits am 26. Juli
von Moltke entworfen worden. Es gehörte offensichtlich zu den Mobilmachungsvorbereitungen
des Generalstabs. Wie wenig das Auswärtige Amt auf einen Krieg gerüstet
war, sieht man daran, daß es seinerseits keine Vorbereitungen für
einen Durchmarsch durch Belgien getroffen hatte und auch in den folgenden
Tagen bei den Verhandlungen mit London niemals auf die frühere Haltung
Englands in dieser Frage hingewiesen hat. Infolgedessen konnte die englische
Regierung die Verletzung der belgischen Neutralität als Hauptgrund
für ihren Eintritt in den Krieg hinstellen.
Am 29. Juli wurde ferner ein Telegramm nach Kopenhagen gesandt, das die
Möglichkeit eines europäischen Krieges vorsieht (Deutsche Dokumente
Nr. 371), ebenso wie eine Weisung nach Stockholm vom 30. Juli (Deutsche
Dokumente Nr. 406). Dagegen wurde auf die Bitte des rumänischen Gesandten,
rechtzeitig von dem etwaigen Eintritt des Bündnisfalles verständigt
zu werden, nichts veranlaßt (Deutsche Dokumente Nr. 351). Vielmehr
wurde dem König Carol nahegelegt, im Sinne des Friedens auf Petersburg
einzuwirken (Deutsche Dokumente Nr. 389). Erst in einem Telegramm an den
König vom 31. Juli appellierte der Kaiser an Rumäniens Vertragstreue
(Deutsche Dokumente Nr. 472). Tatsächlich ist aber schon am 30. Juli
nicht mehr auf Rumänien gerechnet worden (vgl. Deutsche Dokumente
Nr. 456).
Am 29. Juli beurteilte auch der deutsche Generalstab die Lage ungünstig.
In seiner Denkschrift (Deutsche Dokumente Nr. 349), die vor der amtlichen
Bestätigung der russischen Teilmobilmachung geschrieben worden ist,
sah er voraus, daß das Vorgehen Rußlands notwendig die Gesamtmobilmachung
in Österreich-Ungarn zur Folge haben werde. Dies bedeute den österreichisch-russischen
Konflikt, der für Deutschland den Bündnisfall mit sich bringe
und die Mobilmachung nach sich ziehe. Diese wiederum werde die allgemeine
Mobilmachung in Rußland und, wegen der franko-russischen Allianz,
auch in Frankreich zur Folge haben. Mit der Möglichkeit, daß
Rußland ohne äußeren Anlaß und Notwendigkeit zur
allgemeinen Mobilmachung schreiten werde, ist trotz der Maßnahmen
an der deutschen Grenze offenbar in Berlin kaum gerechnet worden. Den
russischen Friedensbeteuerungen wurde wohl noch immer Gewicht beigemessen.
Die deutsche Regierung hat aus ihrer Beurteilung der Lage und aus ihren
Besorgnissen kein Hehl gemacht. Der französische Botschafter berichtete
am 30. Juli über eine Unterredung, die der Vertreter einer "neutralen"
Macht am Morgen dieses Tages mit dem Staatssekretär des Äußeren
hatte:
Herr von Jagow sagte ihm, daß der Ministerrat, der gestern abend
(29. Juli) in Potsdam zusammen mit den militärischen Stellen unter
dem Vorsitz des Kaisers im Anschluß an die Meldung der russischen
(Teil-) Mobilmachung abgehalten wurde, nichts endgültiges beschlossen
habe. Der Unterstaatssekretär fügte hinzu, er fürchte,
Österreich werde infolge der russischen Teilmobilmachung selbst mobilisieren,
was als Rückwirkung die russische Gesamtmobilmachung und als weitere
Folge die deutsche Mobilisierung nach sich ziehen könne. Diese Rückwirkung
sei es, die man vermeiden müsse. Herr von Jagow habe ihm versichert,
daß er keineswegs an der Erhaltung des Friedens verzweifle. (Bericht
an den französischen Senat - 704/1919 - S. 43.)
Am 30. Juli nahm, wie die Deutschen Dokumente zeigen, in Berlin die Besorgnis
zu. Bethmann Hollweg ließ Grey bitten, Frankreich zu bewegen, seine
Kriegsvorbereitungen anzuhalten, und in Petersburg die Annahme seiner
eigenen Vorschläge durchzusetzen. Mit einem russischen Vorgehen gegen
Deutschland scheint man noch immer nicht gerechnet zu haben; denn England
wird nur aufgefordert, einen russischen Aufmarsch gegen die österreichische
Grenze zu
verhindern. (Deutsche Dokumente Nr. 409.) Gleichzeitig richtete der eben
erst aus London zurückgekehrte Prinz Heinrich, wohl im Auftrage des
Kaisers, einen Appell an den König von England, der den gleichen
Gedankengängen folgte: Wenn der Frieden erhalten bleiben solle, müßten
die Kriegsvorbereitungen in Frankreich und Rußland angehalten werden
(Deutsche Dokumente Nr. 417). Auch wandte sich der Kaiser nochmals an
den Zaren (Deutsche Dokumente Nr. 420). Ferner telegraphierte er an den
Kaiser Franz Joseph und drang auf die Annahme der deutschen Vermittlungsvorschläge
(Deutsche Dokumente Nr. 437).
In der Sitzung des preußischen Staatsministeriums vom 30. Juli bezeichnete
Bethmann Hollweg die Lage als nicht aussichtslos. "Als Politiker
gäbe er ... die Hoffnungen und Bemühungen auf Erhaltung des
Friedens noch nicht auf." (Deutsche Dokumente Nr. 456.)
Im Laufe des 30. Juli sind auch Meldungen eingegangen, die die Lage wieder
hoffnungsvoller erscheinen ließen. Die Wiener Regierung begann einzulenken
(Deutsche Dokumente Nr. 432, 433, 448). Die englische Regierung stellte
ihre Einwirkung auf Petersburg in Aussicht (Deutsche Dokumente Nr. 435).
Ihr Versuch hierzu fiel allerdings äußerst unbefriedigend aus
(Deutsche Dokumente Nr. 460). Die Haltung Rußlands war nach wie
vor bedrohlich. Sasonow blieb unnachgiebig, versprach aber, daß Feindseligkeiten
gegen Österreich-Ungarn einstweilen unterbleiben würden (Deutsche
Dokumente Nr. 449).
Das Gesamtbild der Lage stellt ein Wettrennen zwischen den russischen
Rüstungen und der deutschen Vermittlungstätigkeit dar. Die Aussichten
für Deutschland waren angesichts der Kriegstreibereien in Petersburg
von vornherein sehr gering. Berlin hat aber Wien immer wieder angestachelt,
das erforderliche Entgegenkommen zu beweisen. England dagegen trieb zwar
Deutschland zu einer erhöhten Vermittlungstätigkeit an, machte
aber von seinem Einfluß auf Petersburg nur den denkbar geringsten
Gebrauch. Grey sah dem Rennen gespannt zu, es war ihm aber offenbar gleichgültig,
wie es auslief. Frankreich verhielt sich bestenfalls passiv. Da Wien zu
einem weitgehenden Entgegenkommen nicht bereit war, mußte der russische
Kriegswille siegen. Es mag sein, daß das Rennen von vornherein aussichtslos
gewesen ist. Die deutsche Regierung hat sich aber trotzdem bis zuletzt
um die Erhaltung des Friedens bemüht. Auch waren ihre Maßnahmen
im wesentlichen zweckmäßig und erfolgversprechend, was sich
von den englischen Schritten in diesen letzten Tagen nicht sagen läßt
(vgl. Englisches Blaubuch Nr. 111). Daß man in Berlin den Weltkrieg
nicht wollte, geht aus diesem Abschnitt der Verhandlungen so deutlich
hervor, daß sich jede Ausführung hierzu erübrigt. Man
darf aber auch anerkennen, daß nahezu nichts unversucht gelassen
wurde, was den Frieden erhalten konnte.
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Die russische Gesamtmobilmachung
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